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30.12.2003 Mannschaft

Der Profi-Alltag

Aus dem Tagebuch des THW-Tohüters Mattias Andersson

Aus dem offiziellen THW-Bundesliga-Magazin "zebra", von living sports:

Es ist Dezember, es ist Nacht. Nach einer langen anstrengenden Woche steht er plötzlich diesem Kraftpaket gegenüber - Tätowierungen am ganzen Körper, Pflaster im Gesicht. Er kennt ihn gut, er weiß, dass sein Gegenüber gegen ihn ist. Und er weiß, dass er keine Hilfe erwarten kann. Im Gegenteil: Tausende Augenpaare stieren ihn an, keifen, schreien, pfeifen. Sie wollen ihn am Boden sehen, wollen, dass er das Duell verliert, das unweigerlich bevor steht. In dieser Sekunde sind alle nur auf diese beiden Männer fixiert, keine sieben Meter stehen sie auseinander, haben sich gegenseitig fest im Blick. Der junge Schwede konzentriert sich auf den entscheidenden Moment. Er weiß, hunderte Kilometer entfernt von seiner Heimat kann er zum Helden werden, hier aber, in dieser Halle wird er auf keinen Fall beliebt.
Ein wenig scheint es, als hätte Schwedens Starautor Henning Mankell die Feder geschwungen, an jenem denkwürdigen 6. Dezember. Und tatsächlich stammt der Held aus dem südschwedischen Ystad, ist ein Bär von einem Mann. Aber es ist nicht Kommissar Wallander, es ist Mattias Andersson. Sein Krimi ist kein Mord, sein Krimi ist ein Handballspiel - vielleicht das Bundesligaspiel des Jahres. Der THW Kiel in der Magdeburger Bördelandhalle, der THW unerwartet in Führung, und Magdeburg in letzter Sekunde mit der Chance zum Ausgleich, per Siebenmeter (siehe Spielbericht).

Es sind wohl genau diese Momente, die den 25-jährigen Andersson an seinem Sport fesseln. Dieser ungeheuere Adrenalinkick über 60 Minuten, ein- bis zweimal in der Woche. Die Steigerung der Spannung bis zu der Sekunde, in der die Halle bebt. "Mein Produkt ist die Leistung, die Unterhaltung der Leute. Für diese 60 Minuten am Spieltag arbeiten die Mannschaft und ich die gesamte Woche über hart", sagt Andersson. Am liebsten unterhält er die 10000 Menschen in der Ostseehalle. Doch die Leistung muss auch außerhalb Kiels stimmen. Und nirgends waren seine Reflexe so wichtig, wie eben an diesem Sonnabend in der Bördelandhalle.

In der heißen Bundesligaphase vergeht kein Tag ohne Handball. Am Sonntag vor dem Magdeburg-Spiel spielte der THW noch gegen Eisenach, am Montag beginnt schon wieder die Vorbereitung auf das nächste Spiel. Schwerin steht am Dienstag auf dem Spielplan, und so schaut sich der Zebratross bereits am Nachmittag vor dem Spiel wichtige Videosequenzen an. Danach geht es an den Ball, zwei Stunden lang in der Ostseehalle. Am Tag des Spiels noch einmal Video: Das Spiel der Zweitligisten aus Altenholz gegen den kommenden Gegner bietet willkommenen Anschauungsunterricht. Dann eineinhalb Stunden vor dem Anpfiff trifft sich die Mannschaft, bereitet sich auf die Partie vor. Um 19.30 Uhr geht es los. Nach erfolgreicher Arbeit ist Andersson bereits 22.15 Uhr wieder bei seiner Verlobten Anna zu Haus - diesmal hatte er keine weiteren Verpflichtungen im VIP-Raum oder mit Sponsoren. Damit ist das Schwerin-Spiel abgehakt. Jetzt gilt das Denken des Computer-Systemtechnikers nur noch dem Magdeburg-Spiel.

Am Mittwoch holt er sich bei Kriwat neue Einlagen und Torwart-Schuhe, schaut sich ein Magdeburg-Video an und ist natürlich am Nachmittag pünktlich zum zweistündigen Training zur Stelle.

Der Donnerstag beginnt mit zwei Stunden Krafttraining in Schönkirchen, nach kurzer Mittagspause geht es zum Reha-Training nach Wellingdorf, und am Abend - was sonst - zwei Stunden Training am Ball.

Am Freitag steigt die Mannschaft um 13 Uhr den Bus - Dienstreise ins Brandenburgische. Vorher hat Anderssons schon zwei Spiele der Magdeburger analysiert, darf sich auf der Fahrt gemeinsam mit seinen Kollegen weiter per Video auf den Gegner einstellen. Am Abend geht es dann noch einmal an den Ball, bevor sich die Spieler am Sonnabend bis zum großen Auftritt in der Bördelandhalle entspannen dürfen. Für den Europameister von 2000, der vor seiner großen Handball-Karriere vier Jahre lang als EDV-System- und Netzwerk-Techniker täglich Kunden besucht hat, ist der Sportalltag das perfekte Leben: "Es ist für mich ein Traum-Job, da ich mein Hobby zum Beruf gemacht habe und mich derzeit ganz auf den Handball konzentrieren kann." Deshalb lebt Andersson den Handball-Sport auch noch über das vorgeschriebene Training hinaus. Akribisch führt er seit sechs Jahren Trainingsprotokoll, versucht einen geregelten Tagesablauf einzuhalten und achtet auf seine Ernährung. Mit zusätzlicher Gymnastik, Reha-Training und Krafttraining hält er sich fit. Seit er im Sommer 2001 zum THW gestoßen ist, zählt er zu den Ehrgeizigsten in der Mannschaft. Deshalb wollte Andersson auch unbedingt in Magdeburg punkten: "Weil wir zu Hause gegen Flensburg verloren haben, war es unglaublich wichtig, die Punkte gegen eine der Spitzenmannschaften zurückzugewinnen."

Es ist Dezember, es ist Nacht. Stefan Kretzschmar holt aus. Er zirkelt den Ball vom Siebenmeterpunkt zwischen die Beine von Mattias Andersson. Doch der zieht die Beine zusammen, blitzschnell. Das Tor ist zu, der Ball gehalten, das Spiel ist aus. Der THW siegt in Magdeburg 31:30. "Ein herrliches Gefühl, zumal wir hier während meiner Kieler Zeit noch nie gewonnen, sondern wohl immer sehr knapp verloren haben", jubelt der Held des Tages später. Dafür hat sich die Arbeit von Mattias Andersson gelohnt.

(Aus dem offiziellen THW-Bundesliga-Magazin "zebra", von living sports)

Gregorz Tkaczyk tankt sich in der Schlusssekunde an den Kieler Kreis durch, die Schiedsrichter Dang / Zacharias entscheiden auf Strafwurf. Letzte Besprechung von Serdarusic mit Andersson. Kretzschmar tritt an...
Klicken Sie zum Vergrößern! Gregorz Tkaczyk tankt sich in der Schlusssekunde an den Kieler Kreis durch, die Schiedsrichter Dang / Zacharias entscheiden auf Strafwurf. Letzte Besprechung von Serdarusic mit Andersson. Kretzschmar tritt an...

und Andersson pariert! Der Schwede geht Sekunden später in einer Jubeltraube unter.
Klicken Sie zum Vergrößern! und Andersson pariert! Der Schwede geht Sekunden später in einer Jubeltraube unter.


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