Kim Andersson spielte eine starke Partie und kam zu neun Treffern. © Angela Grewe

Während der THW Kiel auf den verletzten Spielmacher Aron Palmarsson verzichten musste, konnte TBV-Trainer Volker Mudrow alle seine Leistungsträger einsetzen - auch Michael Kraus, der nach überstandenem Muskelfaserrisse sein Comeback feiern konnte. Doch zunächst einmal knüpften die Gastgeber nahtlos an ihre desolate

Die Kieler Deckung stand nur in der Anfangsphase kompakt, später gaben sich für Sebastian Preiß Freiräume. © Susanne Schauer

Vorstellung von Dienstag, als Lemgo mit 24:29 bei Aufsteiger Lübbecke unterlag, an: Glandorf unterliefen zwei Fehlpässe, den ersten Lemgoer Torwurf von Kraus konnte Thierry Omeyer in der 5. Minute (!) gar fangen. Allerdings machte der THW Kiel in dieser Anfangsphase zu wenig aus seinen Chancen: Andersson warf über den Kasten, Sprenger, Klein, Ahlm und Jicha scheiterten am starken Martin Galia. So führten die "Zebras" durch einen Siebenmeter von Ilic und einen Heber von Sprenger "nur" 2:0 nach fünf Minuten.

Daher kam der Ausgleich durch Treffer von Glandorf und Bechtloff wenig später überraschend, auch die erneute Führung durch Andersson konterte Lemgo noch einmal. Dann aber zog der THW Kiel in seiner stärksten Phase davon: Erneut Andersson, ein toller Gegenstoßpass von Jicha auf Ahlm zum 5:3, Dominik Klein und dreimal der stark beginnende Ilic warfen die "Zebras" auf 9:3 davon. Die Ostwestfalen fanden gegen die kompakte Kieler Deckung mit Jicha, Ahlm, Lund und Ilic absolut kein Mittel und leisteten sich mehrere Fehlwürfe und technische Fehler am Stück. Und in der Abwehr konnten sie trotz des vorgezogenen Kehrmann den Spielfluss des THW und die Torgefahr von den beiden Halbpositionen nicht einengen. Als Volker Mudrow in der 15. Minute daher beim Stand von 3:9 seine Auszeit nahm, war es im nicht ganz ausverkauften Gerry-Weber-Stadion bereits sehr ruhig geworden.

Die Abwehr des TBV Lemgo stand indes sicher ab der Umstellung auf einen 6:0-Verband. © Susanne Schauer

Doch der TBV Lemgo wachte nun auf und sammelte langsam Selbstvertrauen: Mit Rolf Hermann für den schwachen Holger Glandorf wurde im Angriff die Fehlerquote minimiert, Ilyes und Kraus verkürzten. Obwohl der THW den ersten Fehlwurf vom Siebenmeterpunkt seit 321 Pflichtspielminuten hinnehmen musste, blieb er aber durch zwei Treffer des starken Andersson zunächst noch auf Kurs. Doch so langsam bröckelte das Kieler Aufbauspiel, in dem Filip Jicha einen rabenschwarzen Tag erwischte. Lemgo vertraute nun auf eine zwar defensivere, aber dennoch aggressivere Deckung und verunsicherte damit die Kieler Angreifer. Martin Strobel rückte gegen Andersson nun früher raus und nahm den Schweden damit weitgehend aus dem Spiel, strittige Zeitstrafen gegen Ilyes und Kubes weckten den TBV eher auf, als dass sie ihm schadeten. So erhöhte sich die Kieler Fehlerquote von Minute zu Minute, während Lemgo selbst in Unterzahl durch Kehrmann und Hermann auf 9:11 (23.) verkürzte. Auch die Hereinnahme von Palicka für Omeyer und Narcisse für Jicha brachten keine Kehrtwende, wenngleich der THW durch den fünften Treffer von Andersson noch einmal das 14:11 (27.) vorlegte. Doch längst war besonders Michael Kraus an der Seite von Spielmacher Martin Strobel aufgetaut. "Mimi" ließ sich auch von seinem Gegenspieler Börge Lund nicht verunsichern und verkürzte mit einem Doppelpack auf 13:14. Doch damit nicht genug: In Unterzahl gelang Strobel vor dem Pausenpfiff gar noch der Ausgleich, nachdem ein Treffer Sprengers auf der Gegenseite nicht gewertet wurde, weil der Kieler Rechtsaußen den Ball vermeintlich im Seitenaus angenommen hatte.

Christian Sprenger erzielte 5/1 Treffer. © Angela Grewe

Nach dem Seitenwechsel merkte man dem TBV Lemgo an, dass er mittlerweile an einen erneuten Sieg gegen den THW Kiel glaubte - so wie in der vergangenen Spielzeit, als die "Zebras" im Gerry-Weber-Stadion die einzige Saisonniederlage hinnehmen mussten. So war es erneut Michael Kraus, der seine Mannschaft mit einer tollen Finte gegen Lund erstmals mit 15:14 in Führung warf. Nach dem Ausgleich durch Andersson legte Kraus erneut nach, Ahlm konterte postwendend. Alfred Gislason kommandierte nun Dominik Klein in der Abwehr zur Sonderbewachung von Kraus ab. Das Spiel stand nun auf des Messers Schneide und wurde in dieser Phase dementsprechend hektisch: Hermann und Kehrmann scheiterten auf der einen, Andersson, Ilic und der noch immer glücklose Filip Jicha auf der anderen Seite. Erst Rolf Hermann konnte wieder einen Treffer erzielen, und als Sebastian Preiß zum 18:16 nachlegte, wurden die Kieler zunehmend hektischer in ihren Angriffsaktionen. Für Jicha rückte zunächst Lund, wenig später Narcisse auf die Spielmacherposition, die Ordnung hingegen konnte nicht wiederhergestellt werden.

Fassungslos: Alfred Gislason. © Susanne Schauer

Durch zwei Gegenstöße von Kehrmann erhöhten die Lipperländer auf 20:17, immerhin gelang Sprenger noch der Anschlusstreffer. Doch nun lief bei den Kielern auch in der Abwehr nichts mehr zusammen, dreimal hintereinander wurde nun Sebastian Preiß am Kreis aus den Augen gelassen, der diese Freiräume zum 23:19 nutzte. Als dann auch noch Andersson an Galia scheiterte, Schmetz im Gegenstoß zum 24:19 traf und Kiels schwedischer Linkshänder zudem für zwei Minuten auf die Bank musste, drohte endgültig ein ähnliches Debakel wie in der Vorsaison.

Zwar traf Sprenger in Unterzahl mit einem tollen Rückraumwurf, doch längst hatte sich der TBV Lemgo in einen Rausch gespielt. Zweimal Hermann und zweimal Bechtloff besorgten das 28:21 (48.), während die Kieler im Angesicht der drohenden Niederlage völlig kopflos und überhastet abschlossen. Volker Mudrow brachte nun - den Sieg vor Augen - Holger Glandorf zurück in die Partie, und auch er konnte nun mit seinem Treffer zum 29:23 ein Erfolgserlebnis feiern. Jedoch steckte der THW Kiel noch nicht auf, mit den vorgezogenen Klein und Sprenger sollte Lemgo zu Fehlern gezwungen werden. Mit Erfolg: Sprenger verkürzte per Siebenmeter und mit einem Gegenstoß auf 25:29 (51.). Lemgo konterte durch Bechtloff zum 30:25, ehe Kehrmann einen Gegenstoß an die Latte warf und damit die endgültige Entscheidung vertagte. Stattdessen klappte wenig später erneut das offensive Störfeuer der Kieler Flügelzange, Klein traf zum 26:30 und machte Lemgo damit plötzlich wieder nervös. Mudrow nahm seine Auszeit, doch die half in dieser Phase auch nichts. Kehrmann und Strobel scheiterten an Palicka, Narcisse und Andersson verkürzten per zweiter Welle. Und als Holger Glandorf dann auch noch ein technischer Fehler unterlief und Dominik Klein vier Minuten vor Schluss den 30:29-Anschluss (56.) markierte, war die Partie plötzlich wieder offen.

Die Matchwinner für den TBV Lemgo: Martin Galia und Michael Kraus. © Angela Grewe

Jedoch übernahm in dieser Phase einmal mehr Michael Kraus Verantwortung und netzte zum 31:29 ein. Andersson unterlief gegen Strobel auf der Gegenseite ein Stürmerfoul, und als Anic nach einer ungestümen Aktion gegen Glandorf für zwei Minuten auf die Bank geschickt wurde, hatte der TBV wieder alle Trümpfe in der Hand - erst recht, als Strobel die Überzahl zum 32:29 nutzte. Noch einmal bäumte sich der THW Kiel gegen die drohende Niederlage auf: Andersson erzielte seinen neunten Treffer, Palicka parierte gegen Kehrmann und Sprenger bekam 30 Sekunden vor Ende die Chance, vom Siebenmeterpunkt für dramatische Schlusssekunden zu sorgen. Allerdings versagten dem National-Rechtsaußen die Nerven, nach dem dritten verworfenen Kieler Siebenmeter war der Sieg des TBV Lemgo endgültig besiegelt.

Somit haben die "Zebras" die "gefühlte" Tabellenführung an den HSV Hamburg (35:28 in Melsungen) abgeben müssen, es aber weiterhin selbst in der Hand, Meister zu werden. Während Dominik Klein und Christian Sprenger in den kommenden Tagen im DHB-Dress zwei Länderspiele gegen die Schweiz absolvieren, hat der Rest der THW-Mannschaft nun zehn Tage Zeit, sich auf die nächste schwere Auswärtshürde vorzubereiten: Am Mittwoch, den 24. März gastieren die Kieler beim aktuellen Tabellenvierten Frisch Auf Göppingen.

(Sascha Krokowski)

Lesen Sie auch den Spielbericht der Kieler Nachrichten.

 

Aus den Kieler Nachrichten vom 15.03.2010:

Lemgo schockt die "Zebras"

THW Kiel stolpert nach 9:3-Führung - Kraus überragend

Lemgo - Vor dem Bundesliga-Klassiker zwischen dem TBV Lemgo und THW Kiel wurde Alfred Gislason offiziell als Trainer des Jahres geehrt. Danach hatte der Anhang des Handballmeisters keinen Grund mehr zur Freude. Nach einer enttäuschenden Vorstellung unterlagen die "Zebras" im Gerry-Weber-Stadion verdient mit 30:32 (14:14) Toren und haben wichtigen Boden auf Tabellenführer HSV Hamburg verloren.

Schon wieder der TBV! In der abgelaufenen Rekordsaison brachten die Ostwestfalen dem THW beim 34:27 die einzige Niederlage bei, und in der Hinrunde beendeten die Lemgoer mit dem 27:27 ebenfalls eine lange Kieler Siegesserie in eigener Halle. Zum Angstgegner mochte Kiels Trainer den zweifachen deutschen Meister allerdings nicht küren. Das habe nichts mit dem Namen Lemgo zu tun, sagte Gislason. "Vielmehr haben wir selbst schlecht gespielt, zu wenig Druck auf die 6:0-Abwehr ausgeübt."

Dabei waren die "Zebras" nach dem Triumph beim VfL Gummersbach mit breiter Brust angereist, standen in der mit 10 250 Zuschauern nahezu ausverkauften Tennis-Arena bärenstark in der Abwehr und legten mit der 9:3-Führung nach 15 Minuten einen grandiosen Start hin. Danach, wunderte sich Gislason, sei sein Team allerdings in einen kollektiven Tiefschlaf gefallen. Der Bruch im Kieler Spiel stand indes auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Umstellung in Lemgos Abwehr. Trainer Volker Mudrow ließ fortan defensiv 6:0 statt 5:1 decken.

Während der wuchtige Kieler Rückraum um Ilic, Narcisse und Jicha jetzt vergeblich Lücken im TBV-Abwehrverband mit dem Mittelblock Kubes/Ilyes suchte und sich nur noch auf die Durchschlagskraft von Kim Andersson (9 Tore) verlassen durfte, zündeten die TBV-Spieler den Turbo. Ganz stark trumpfte vor allem der zuletzt in die Kritik geratene und zudem durch eine Oberschenkelverletzung gehandicapte Michael Kraus auf. Wie im Hinspiel avancierte der Nationalspieler zum besten Lemgoer Torschützen, traf insgesamt sieben Mal und führte sein Team bis zur Pause mit dem 14:14 ins Spiel zurück. Auffällig auch die Kieler Schwäche beim Überzahlspiel. Kubes und Co. langten in der Abwehr kräftig zu, landeten insgesamt siebenmal auf der Strafbank, aber die Tore erzielte der Gastgeber. Fünfmal trafen die Lemgoer in Unterzahl.

Längst waren auch die TBV-Fans erwacht, die Halle kochte, und die spät erwachte Euphorie übertrug sich sofort auf den Start in die zweite Spielhälfte. Tor um Tor zog Lemgo jetzt davon, Preiß, Hermann, Bechtloff spielten sich in einen Rausch. Kiels Gegenwehr hielt sich in Grenzen, Weltklasse-Torhüter Thierry Omeyer fand keine Bindung, Filip Jicha, beim Sieg in Gummersbach noch 13-facher Torschütze, ging bei seinem Ex-Klub völlig leer aus. Und so schien die Partie beim 28:21 nach 48 Minuten entschieden. Ein Lattenkracher nach Tempogegenstoß von Florian Kehrmann sorgte dann aber für einen Weckruf an den THW. Bei Lemgo ging nichts mehr, Kiel fand ins Spiel zurück und durfte nach dem 30:29 (56.) von Dominik Klein wieder von Punkten träumen. Es war nur ein kurzes Aufbäumen, Kraus und Strobel sorgten für die erneute Drei-Tore-Führung, und als ausgerechnet Kiels zuverlässigster Spieler, Christian Sprenger, den letzten Siebenmeter 32 Sekunden vor dem Abpfiff beim 30:32 am TBV-Tor vorbeisetzte, stand der erneute Lemgoer Triumph über Kiel fest.

(von Reimer Plöhn, aus den Kieler Nachrichten vom 15.03.2010)