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04.09.2011 Mannschaft

Zebra-Journal: Auf dem Asphalt zu Hause

Daniel Narcisse: Wie aus einem "Straßenhandballer" ein Welt-Star wurde

Aus dem Zebra-Journal der Kieler Nachrichten vom 02.09.2011:

St. Denis. Hier hat alles begonnen. Auf dem Asphalt von Moufia, einem Stadtteil von St. Denis, der nicht den besten Ruf genießt. "Es gibt hier einige gute Straßen, aber auch viele schlechte", sagt Daniel Narcisse, der in diesem Teil der Hauptstadt von La Reunion aufgewachsen ist. "Ich bin auch das eine oder andere Mal in eine schlechte abgebogen."
Die Insel "La Reunion", Heimat von Daniel Narcisse, liegt 800 Kilometer östlich von Magdagaskar im indischen Ozean. Die Flugzeit von Paris beträgt ca. 11 Stunden.
Die Insel "La Reunion", Heimat von Daniel Narcisse, liegt 800 Kilometer östlich von Magdagaskar im indischen Ozean. Die Flugzeit von Paris beträgt ca. 11 Stunden.
Dass er trotzdem einer der besten Handballer der Welt werden konnte, verdanke er seinen Eltern und Vincent Nangil. Letzterer kümmerte sich nicht nur "als Trainer um die Jugend, er erklärte ihnen auch, den Unterschied zwischen den guten und schlechten Wegen. "Im hatte außerdem, im Gegensatz zu vielen anderen, eine Mutter und einen Vater, die sich sehr um mich gekümmert haben", sagt Narcisse, der vor einigen Wochen den Mannschaftskollegen vom THW Kiel seine Heimat, eine Insel im Indischen Ozean, zeigte.

Der 31-Jährige wuchs in einem der schmucklosen Blocks auf, die die asphaltierten Handballfelder in Moufia einrahmen. Die Eltern, Marysa und Alex, arbeiteten hier als Hausverwalter und bewohnten mit ihren drei Söhnen und zwei Töchtern vier Zimmer. Daniel teilte sich eines mit seinen Brüdern Eric und Remy. "Für mich bestand ein Apfel immer aus fünf Teilen", sagt der Olympiasieger, der sich an eine glückliche Kindheit und eine strenge Mutter erinnert. "Ein Wort von ihr genügte." Die heute 58-Jährige legte Wert darauf, dass Daniel nicht nur auf den Sportplätzen von Moufia aufwuchs.

In den vergangenen Jahren hat sich hier wenig verändert. Auch heute lungern die Jugendlichen rund um die Spielfelder herum, trinken Bier, verkaufen Drogen. . Auf La Reunion, einem französischen Übersee-Departement sind 35 Prozent der rund 800.000 Einwohner jünger als 25 Jahre. Die Arbeitslosigkeit beträgt fast 40 Prozent. Besonders in St. Denis ist der Sport eine der wenigen Optionen, sich von den schlechten Straßen fernzuhalten. Um die Jugendlichen zu unterstützen, will Narcisse dem Bürgermeister Gilbert Annette seine Hilfe anbieten. "Sie sollen lernen, wo sich die guten Straßen befinden."

Seine Schule, das "College les Alizes", trennte nur wenige hundert Meter von seinem Elternhaus, dazwischen lagen mehrere Sportplätze. Mit seinem älteren Bruder Eric, der heute ein Sportgeschäft betreibt, spielte er nach der Schule Basketball. Anschließend übte er sich als Handballer. Wie einst sein Vater Axel, der wie er im linken Rückraum spielte. In der 1. Liga von La Reunion, einer Hobby-Liga. "Der Asphalt war für mich kein Problem", sagt Daniel Narcisse, der als 15-Jähriger erstmals in einer Halle Tore warf. "Meine Knochen habe ich mir erst in der Bundesliga ruiniert."

Narcisse war ein guter Läufer, er sprang schon in jungen Jahren sehr weit und hatte auch als Diskuswerfer durchaus Talent. Letztlich entschied er sich, ein Handballer zu werden, weil die Auswahl seiner Insel die schönsten Reisen machte.

Hausbesuch beim Postboten
Auf dem Asphalt von Moufia, einem Stadtteil von St. Denis, begann die Karriere von Daniel Narcisse, der in dem Wohnblock gemeinsam mit seinen vier Geschwistern aufwuchs. "Damals hatte das Haus allerdings noch keine Farbe." Yvrain Pause arbeitete im Talkessel von Mafate vier Jahrzehnte als Postbote, lief dabei 316.800 Kilometer über Stock und Stein, also achtmal um die Welt. Doch Daniel Narcisse, sein großes Idol, traf der 84-Jährige im Juli 2011 zum ersten Mal. Narcisse besuchte ihn in seinem kleinen Tante-Emma-Laden, den er seit 51 Jahren im Dörfchen Cayenrie betreibt.
Siehe Extra-Bericht.
"Ich war schon immer gerne unterwegs, das hat mich gereizt." An seiner Lust, das Neue zu erleben, hat sich nichts geändert. "Ich bin immer bereit, mich auf eine neue Kultur einzulassen." Er könne überall leben, seine Ansprüche seien gering. "Das Haus sucht immer meine Frau Emmanuelle aus, ich bin immer mit allem einverstanden." Ihm sei es nur wichtig, dass es Freunden und der Familie gut geht. Dann, so Narcisse, wäre auch er zufrieden. "Emmanuelle sagt manchmal, dass ich mich zu viel um andere und zu wenig um mich kümmere - aber so bin ich eben."

Als 16-Jähriger verließ er La Reunion und zog ins Internat des französischen Erstligisten Chambery ein. Gemeinsam mit den Gebrüdern Gille, die heute für den HSV Hamburg spielen. "Nach einer Woche wollte ich wieder nach Hause fahren", sagt Narcisse. Alles sei ungewohnt gewesen. Das intensive Training, das Essen, die Mentalität, das Wetter, eben alles. Kartoffeln statt Reis, Schnee statt Sonne, die auf der Westseite von La Reunion 300 Tage im Jahr scheint. Es war sein Mentor Vincent Nangil, der ihn davon überzeugte, auf dem Festland zu bleiben. Es zu versuchen.

"Er war sehr zappelig, hatte unglaublich viel Energie ", erinnert sich Mutter Marysa, die es ablehnte, ihn auf Wunsch seines Sportlehrers bereits als Zwölfjährigen in ein Internat zu schicken. "Mir war es wichtig, dass er die Schule besucht. Da gab es für ihn keine Ausnahme, alle meine Kinder haben die gleiche Erziehung bekommen."

Unvergessen ist der erste Kontakt mit Nationaltrainer Daniel Constantini. Er rief ihn in den Weihnachtstagen 1999 auf La Reunion an, Daniel Narcisse machte gerade Urlaub bei seiner Familie. "Ich war so überrascht, dass ich gar nicht richtig antworten konnte." Er, der ein Jahr später Weltmeister werden sollte, hatte Angst. Zurecht, wie sich in seinem ersten Länderspiel herausstellen sollte. Heute kann er allerdings darüber lachen, wenn er sich an den ersten Auftritt im Trikot seiner Nationalmannschaft erinnert. Im Januar 2000 in einem Freundschaftsspiel gegen Island. In Vittel. Mit Stars wie Patrick Cazal oder Jackson Richardson, die wie er ihre Wurzeln auf La Reunion haben. "Vorne ein Fehlwurf, ein Ballverlust und hinten eine Zeitstrafe nach einem dummen Foul - das Spiel war nach zwei Minuten für mich beendet." Eine Katastrophe sei dieser Auftritt gewesen. "Ich dachte, ich kann gar nichts." Narcisse fand Trost bei den Kollegen und Trainer Constantini lud ihn gleich zum nächsten Spiel wieder ein. "Da wusste ich, dass ich zu dieser Mannschaft gehöre. Danach war alles ok."

Ok? Narcisse ist ein bescheidener Typ. Einer, der auf dem Boden geblieben ist, obwohl er in Frankreich längst ein Superstar ist. Deshalb ist er für seine Landsleute auf La Reunion die Antwort auf den Deutschen Franz Beckenbauer, der trotz Kaiser-Status ebenfalls bodenständig geblieben ist. Hier haben sie nie vergessen, dass er bei der Meisterfeier 2010 vor knapp 20.000 Menschen auf dem Kieler Rathausplatz ein Lied in ihrer kreolischen Sprache gesungen hat. Über "You Tube" landete der Song auf La Reunion, spätestens seitdem ist er Kult auf der Insel, zu deren bekanntesten Persönlichkeiten er gehört. Wie der Flug-Pionier Roland Garros, der Politiker Raymond Barre oder der Fußball-Nationalspieler Guillaume Hoarau. Seine Fans begegnen ihm mit großem Respekt, aber sie bedrängen ihn nicht. Mit seiner angeborenen Lässigkeit schafft er Distanz und Nähe. Jeder traut sich, ihn anzusprechen, akzeptiert es aber geduldig, wenn er erst einmal ein Sandwich mit scharfer Soße essen will, bevor er sich zum Foto vor einer Imbissbude aufstellt.

Narcisse würde sich wünschen, nach seiner Karriere mehr Zeit auf der Insel verbringen zu können. Allerdings fehlt noch die berufliche Perspektive. "Wahrscheinlich sind die Chancen größer, auf dem Festland einen Job zu bekommen." Derzeit studiert er an einer Fern-Universität in Grenoble. Er will verstehen, wie ein großes Unternehmen funktioniert.

Seine Frau Emmanuelle betreibt in Chambery ein Sportgeschäft und überlegt, eine Event-Agentur zu gründen. Ihr Mann hatte grünes Licht gegeben. Allerdings unter einer Voraussetzung: Sie sollte innerhalb von zwei Jahren den THW Kiel nach La Reunion lotsen. Gemeinsam mit dem Tourismus verband, der sich von dem Besuch der Handball-Stars positive Schlagzeilen über das Insel-Paradies erhoffte, gelang es ihr. Allerdings war sie sich anschließend nicht mehr sicher, ob sie diese Agentur tatsächlich noch gründen möchte. "Es war super, dass die Kieler hier waren. Aber die Organisation war auch ganz schön stressig."

Für den THW wäre ein Daniel Narcisse als gesunder Bestandteil des Teams nicht nur in sportlicher Hinsicht wichtig. Auch die Mannschaftskasse lebt von seinem lässigen Umgang mit Terminen und den daraus resultierenden Strafgeldern. "Sollten wir am Saisonende nach Mallorca fliegen, wünsche ich mir ein T-Shirt, auf dem steht: Erster Sponsor Daniel Narcisse."

Die Natur trifft sich auf La Reunion

Französisches Übersee-Department im Indischen Ozean hat viele Gesichter

Informationen über La Reunion finden Sie auf  www.insel-la-reunion.info.
Klicken Sie für weitere Infos! Informationen über La Reunion finden Sie auf www.insel-la-reunion.info.
Lava schuf vor mehr als zwei Millionen Jahren die Insel La Reunion. Heute ist der 2632 Meter hohe Piton de la Fournaise der zweitaktivste Vulkan der Welt - nach dem Kilauea auf Hawaii. Eine gewaltige Eruption ließ vor vier Jahren den Hauptkrater einbrechen, der bis zu sechs Meter hohe Lavastrom wälzte sich quer über die Küstenstraße N2 ins Meer und ebbte erst nach sechs Monaten ab. Noch heute dampft die Lava an einigen Stellen, und es ist eine leichte Übung, mit trockenen Blättern ein Feuerchen anzuzünden.
  • Anreise. Da es noch keine Direktflüge aus Deutschland gibt, bleibt für die Anreise nach St. Denis nur die Wahl zwischen französischen Airlines Air France, Air Austral und Corsar. Die Elf-Stunden Flüge ab Paris-Orly kosten zwischen 700 und 1500 Euro (Hauptsaison) pro Person. Schnäppchen-Angebote, auf dem Festland keine Seltenheit, gibt es nicht. Das Flugmonopol der Franzosen ist auch für die Einheimischen auf La Reunion ein Problem. Wer das Paradies verlassen will, muss es sich auch leisten können. Eine Alternative ist die Anreise mit Air Mauritius von Frankfurt und München nach Mauritius und von dort weiter nach St. Denis. Ein großer Pluspunkt: Für die Einreise genügt der Personalausweis, Visa sind nicht erforderlich.
  • Regen. Dieses Wort erlebt hier eine neue Dimension. In fünf Tagen regnet es hier mehr als in Paris in zehn Jahren. Aber nicht überall. Auf der Westseite der Insel scheint 300 Tage im Jahr die Sonne. Von Dezember bis März herrscht auf La Reunion Regenzeit. Die Monate, in der die gefürchteten Zyklone wüten. Elf Meter hohe Wellen und tonnenschwere Gesteinsbrocken sind keine Seltenheit, innerhalb von Minuten verwandeln sich Rinnsale in reißende Flüsse.
  • Essen. Das traditionelle Gericht ist der Eintopf, Huhn das Fleisch Nummer eins. Neben Reis werden Linsen und Bohnen gereicht, dazu gibt es den unvermeidlichen Rum. Die Portionen sind gigantisch, die Gewürze scharf. Großer Beliebtheit erfreut sich das Picknicken im Familienkreis. Um sich für das Wochenende die besten Plätze zu sichern, wird nicht selten schon am Freitag dort gezeltet.
  • Unterhalt. Das Leben ist teuer, müssen doch die meisten Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände importiert werden. Dazu liegen die Gehälter rund ein Drittel unter denen auf dem französischen Festland. Da die Bevölkerungszahl steigt - im Jahr 2020 soll die Millionen-Grenze durchbrochen werden - steigen auch die Grundstückspreise. In manchen Regionen wird gar nicht mehr nach Quadratmeterpreisen gehandelt. Da bekommt derjenige den Zuschlag, der am meisten bietet. Für das Mutterland ist das Überseedepartment ein Zuschuss-Betrieb, werden Zuckerrohr und Vanille, die einstigen Exportschlager, doch längst andernorts deutlich günstiger produziert. Im 19. Jahrhundert war der Bedarf an Zucker aus La Reunion noch so groß, dass auf den Plantagen rund 60.000 Sklaven schufteten. Zwei Zuckerrohrfabriken produzieren noch heute 65 Prozent des Stroms, der auf der Insel benötigt wird. Der Rest wird durch Sonnen- und Wasserenergie gewonnen.
  • Natur. Geprägt wird die Insel von drei Talkesseln ("Cirque"). Gewaltige Krater, die entstanden, als nach der vulkanischen Inselgeburt die Kuppen rund um den 3070 Meter hohen Piton des Neiges einbrachen. Der Größte ist der "Cirque de Mafate", der in 1,2 Kilometer Tiefe liegend, nur zu Fuß oder mit einem Hubschrauber zu erreichen ist und unlängst zum Nationalpark erklärt wurde. Hier leben rund 700 Menschen, die den Eindruck vermitteln, die Uhr angehalten zu haben. Entlaufene Sklaven ("Marrons") ließen sich hier einst nieder und gaben den Kesseln Namen. Mafate beispielsweise heißt "Ort, der stinkt". Wer hier seinen elften Geburtstag feiert, muss sich eine Gastfamilie an der Küste suchen, um dort zur Schule gehen zu können. Doch die meisten Jugendlichen kehren später zurück in die Einsamkeit. Hier gibt es Arbeit, das ist auf der Insel keine Selbstverständlichkeit.
  • Insel. Etwa 800.000 Einwohner leben hier, die sich im Laufe der Jahrhunderte eine eigene Identität zugelegt haben. Metissage nennen sie den Prozess der Vermischung der Ethnien, Kulturen und Religionen. Offiziell sollen 90 Prozent Katholiken sein, doch die meisten hängen nicht nur einer Religion an. Die Franzosen betraten die Insel, die von portugiesischen Seefahrern entdeckt wurde, erstmals im Jahr. 1643. Sie nutzten sie, um Verbrecher auszusetzen. Aber auch, um Rehe und Schweine anzusiedeln, die sie jagten, sobald sie an der Küste ankerten.
  • Orginale. Ein Wahrzeichen ist die Bourbon-Vanille, die das feuchtwarme Klima liebt und die Temperaturen, die auch im Winter nicht unter 15 Grad Celsius fallen. Die Bestäubung ist echte Handarbeit, weil die dafür zuständige Bienenart, die in Mexiko zu Hause ist, sich nicht ansiedeln lässt. So muss mit einer dünnen Kaktusnadel der Pollen aus dem Blütenkelch auf den Stempel gedrückt werden. "Verheiraten" nennt sich der Prozess, der so genannt wird, weil die Blüte nur an einem Tag paarungsbereit ist. Ist die Befruchtung geglückt, dauert es neun Monate, bis eine grüne Stange gewachsen ist, die gedünstet und getrocknet wird.
  • Nobeltourismus soll die Zukunft prägen. Wunsch-Gast ist ein Deutscher, der bereit ist, sich die außergewöhnliche Natur etwas kosten zu lassen. Tatsächlich ist La Reunion ein Ort der kurzen Wege. Parägliden, Helikopterflüge, Vulkanbesteigung, Dschungel-Wanderungen oder einzigartige Tauchgänge in der Lagune St. Leu - die Möglichkeiten sind in ihrer Vielfalt einzigartig. Um den Deutschen zu locken, soll es weitere Fünf-Sterne-Hotels geben. Bislang gibt es mit dem "Grand Hotel du Lagon" in St. Salins-les-Bains nur eines. Eine Entwicklung, die nicht alle Kreolen begrüßen, entstehen in der Tourismusbranche doch zumeist Jobs für Arbeiter aus dem benachbarten Mauritius, die deutlich günstiger sind.
(Aus dem Zebra-Journal der Kieler Nachrichten vom 02.09.2011)


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