Von Sascha Klahn, living sports:
Die Handball-Europameisterschaft 2006 wirft ihre Schatten voraus. Vom 26. Januar bis 5. Februar steigen
die kontinentalen Titelkämpfe in der Schweiz. Titelverteidiger Deutschland trifft in der Vorrunde auf
Weltmeister Spanien, Frankreich und auf die Slowakei. Im exklusiven Gespräch mit living sports äußert
sich Bundestrainer Heiner Brand zu den
Perspektiven seines neu formierten Teams.
- living sports:
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Herr Brand, freuen Sie sich auf die bevorstehenden Europameisterschaft?
- Heiner Brand:
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Heiner Brand: "Wir starten als Außenseiter in das Turnier."
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(lacht) Derzeit befinde ich mich wohl noch in einem nicht zu definierenden Zustand.
Gedanklich bin ich natürlich schon bei der Europameisterschaft, stecke voll in den Vorbereitungen und habe
bereits die Video-Zusammenschnitte unserer Gegner fertig gestellt. Nur was meine eigene Mannschaft angeht,
bin ich leider noch nicht so weit. Ich werde wohl bis zum letzten Augenblick telefonieren müssen, bis am
Dienstag mein vorläufiger 24 Mann starker Kader steht. Danach gilt dann das Prinzip Hoffnung, alle Mann
heil bis Ende Januar durchzubekommen. Wenn wir jedoch erst einmal in der Schweiz sind, dann wird die
Situation sicher nicht ganz unangenehm für uns werden, denn wir starten nicht als Favorit, sondern als
Außenseiter in das Turnier.
- living sports:
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Sie freuen sich also doch?
- Heiner Brand:
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Solch ein Turnier ist auch heute noch etwas Besonderes für mich. Natürlich setzt vor jedem Spiel
wieder das Magenkribbeln ein und die Nervosität steigt. Das sind immer wieder schöne Erlebnisse. Aber bis
dahin haben wir noch sehr viel Arbeit vor uns.
- living sports:
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Sie sprechen es selbst an: Der Titelverteidiger Deutschland gehört erstmals seit langem
nicht mehr zu den Topmannschaften. Das zu Ende gehende Jahr schließen Sie mit einer ausgeglichenen Bilanz
ab, elf Siegen stehen elf Niederlagen bei drei Unentschieden gegenüber. Ein ernüchterndes Ergebnis?
- Heiner Brand:
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Statistiken interessieren mich nicht. Mich interessiert lediglich, was mit meiner Mannschaft
passiert. Nach den Olympischen Sommerspielen in Athen war klar, dass wir vor einer schwierigen Phase des
Neuaufbaus stehen würden. Den allerdings konnten wir im abgelaufenen Jahr nicht starten. In 25 Spielen
konnte ich aufgrund von Verletzungsproblemen nicht ein einziges Mal auf meinen Wunschkader zurückgreifen.
Da wir permanent mit wechselnden Aufstellungen spielen mussten, sind wir als Mannschaft nicht nach vorn
gekommen. Stattdessen gab es ein Jahr lang Experimente.
- living sports:
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Gab es Augenblicke, in denen Sie resignieren wollten?
- Heiner Brand:
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Die gab es im Laufe dieses Jahres nicht. Denn es konnte wohl vorher keiner erahnen, wie
unerfreulich sich unsere Situation entwickeln würde. Es hat schließlich auch Spaß gemacht, neue junge
Spieler in die Nationalmannschaft zu integrieren, zu sehen, wie engagiert sie zu Werke gingen und welche
Fortschritte sie machten. Im Nachhinein bin ich aufgrund der personellen Situation nicht zufrieden. Dieses
Pech nagt zwischendurch schon an einem und man macht sich Gedanken, warum das alles so eingetreten ist.
Aber nahe der Resignation war ich nie.
- living sports:
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Ist es nach all den Erfolgen der vergangenen Jahre nicht dennoch frustrierend, vermeintlich
chancenlos in die Europameisterschaft zu starten?
- Heiner Brand:
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Auf keinen Fall! In dem Moment, in dem ich meine Mannschaft beisammen habe, gilt die volle
Konzentration unserem Erfolg. Dann werde ich mit der gleichen Begeisterung und dem gleichen Engagement wie
in den vergangenen Jahren dabei sein. Ich denke sogar, ich bin dieses Mal noch intensiver auf das Turnier
vorbereitet. Unsere Mannschaft wird ganz sicher alles versuchen, um gut abzuschneiden. Im Prinzip sind
jegliche Gedanken an die Vergangenheit vorbei, denn sonst kämen wir keinen Schritt weiter.
- living sports:
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Welche Hoffnungen machen Sie sich?
- Heiner Brand:
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Ich hege die Hoffnung, dass wir gute Leistungen bringen und die Favoriten ärgern werden - das würde
mir schon enorm viel Spaß machen. Außerdem wäre das fast gleich lautend mit einer guten Platzierung. Der
unbedingte Wille, jeden Gegner zu schlagen, ist vorhanden. Egal wie die Mannschaft aussieht, die deutsche
Nationalmannschaft muss sich nicht verstecken.
- living sports:
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Was fehlt Ihrer Mannschaft noch?
- Heiner Brand:
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Wir haben gewisse Qualitäten und individuelle Fähigkeiten. Jetzt müssen wir in der verbleibenden
Vorbereitungszeit noch mannschaftlich zusammenwachsen. Ob's dann reicht? Ich weiß es nicht. Wir sind noch
immer nah dran an der absoluten Weltspitze. Das haben wir trotz der Niederlagen beim Supercup bewiesen.
Aber es ein verdammt harter Weg, die fehlenden fünf Prozent auszugleichen.
- living sports:
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Was sind realistische Ziele für die anstehende Europameisterschaft?
- Heiner Brand:
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Dazu kann ich momentan wirklich noch gar nichts sagen. Noch weiß ich nicht, wer am Ende wirklich
dabei sein wird - was ist mit Markus Baur oder Oliver Roggisch, werden Holger Glandorf und Christian Zeitz
tatsächlich rechtzeitig wieder topfit? Mir könnten schnell die Alternativen ausgehen... Realistisch
betrachtet sind schon in der Vorrunde Spanien und Frankreich die Topfavoriten. Spanien spielt nahezu
unverändert mit seiner aktuellen Weltmeistermannschaft und auch Frankreich spielt seit fünf Jahren,
abgesehen von kleinen Veränderungen, erfolgreich mit der gleichen Aufstellung und gehörte immer zu den
Besten.
- living sports:
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Auf Ihre Nummer eins im Tor haben Sie sich bereits festgelegt. Sie halten an Henning Fritz
fest, obwohl er zuletzt in der Bundesliga seiner Form hinterher lief. Warum?
- Heiner Brand:
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Das habe ich getan, um ihn zu stärken. Henning Fritz genießt bei mir sehr viel Vertrauensvorschuss.
Er spielte in den vergangenen Jahren vier überragende große Turnier und wurde nicht ohne Grund zum
"Welthandballer des Jahres 2004" gekürt. Ich glaube an ihn, er hat sich dieses Vertrauen hart erkämpft.
Ich gehe davon aus, dass er es bei der EM wieder einmal rechtfertigen wird.
- living sports:
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Ist die Europameisterschaft 2006 für die deutsche Nationalmannschaft nur eine
Zwischenstation auf dem Weg zur Weltmeisterschaft 2007 im eigenen Land?
- Heiner Brand:
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Ich tue mich schwer damit, die EM als "Zwischenstation" zu bezeichnen. Wir können es uns als
Handballer nicht leisten zu sagen, wir schauen in der Schweiz einfach mal, was am Ende dabei heraus kommt.
Wir müssen mit allen Mitteln um die bestmögliche Platzierung kämpfen - erst danach sollten wir unseren
Blick in Richtung WM richten. Natürlich wird uns die EM im Hinblick auf die WM um viele Erfahrungen und
Erkenntnisse in allen Bereichen reicher machen und wir werden als Mannschaft dazu lernen. Das gilt es dann
im Laufe des Jahres zu nutzen.
- living sports:
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Haben Sie gelegentlich Sorge darum, die deutsche Nationalmannschaft könnte Ihren Kredit in
der Öffentlichkeit, den sie sich durch die Erfolge der vergangenen Jahre hart erarbeitet hat, innerhalb
solch eines anstehenden Turniers wieder verspielen?
- Heiner Brand:
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Sicherlich besteht diese Gefahr, auf die ich ja auch schon länger hinweise. Wenn es jetzt nicht
passiert, könnte es irgendwann in den kommenden Jahren passieren. Allerdings wäre es, wenn die
Nationalmannschaft ihren Kredit verspielt, gleichbedeutend damit, dass der deutsche Handball insgesamt an
Ansehen verliert. Wenn das alle Beteiligten in ihren Denkansätzen berücksichtigen würden, würden einige
Entscheidungen sicher anders ausfallen.
(Das Gespräch führte Sascha Klahn, © living sports)