Die neue Bundesligaserie hatte noch nicht einmal begonnen,
da plagten den THW Kiel schon erste Personalsorgen.
Dabei hatten Manager
Uwe Schwenker und Trainer
Noka Serdarusic zuvor entgegen alter Gewohnheit fast schon
in ganz großem Stil auf dem Transfermarkt zugeschlagen: Drei Abgängen standen zunächst
sechs Neuverpflichtungen gegenüber, später folgten mit
Sören Haagen und
Julio Fis die Zugänge sieben und acht.
Doch trotz nunmehr nominell 17 Akteuren muß
Serdarusic auf der Bank und
nicht zuletzt auch auf der Platte die ein oder andere Lücke schließen. Die Zebraherde ist schlichtweg vom langfristigen Verletzungspech verfolgt.
Daß die Zebraherde bereits so früh in der Saison so arg gebeutelt ist,
beruht auf bitterem Zufall. Mannschaftsarzt
Dr. Detlev Brandecker erläutert:
"In der Vorbereitung und im weiteren Trainingsverlauf wurde konsequent und gewissenhaft gearbeitet.
Die momentanen Verletzungen sind wirklich Pech. Die einzelnen Entstehungsgeschichten belegen dies."
So mußten sich Neuzugang
Piotr Przybezki (Kreuzbandriß und Anriß des Außenbandes)
in einem der letzten Testspiele vor Saisonstart und
Nikolaj Jacobsen (Meniskusquetschung
und Knorpelstauchung) beim Bundesligaauftakt in Frankfurt jeweils nach Sprungwürfen mit
Gegnerkontakt und daraus resultierender unkontrollierter Landung zwangsweise längerfristig vom
Spielgeschehen abmelden.
Christian Scheffler verhakte sich im Spiel gegen Schwerin
derart unglücklich im Trikot seines Gegenspielers, daß er sich den Finger auskugelte.
Torwart
Steinar Ege startete nach überstandener Knieoperation (Knorpelschaden) noch gar nicht in das Mannschaftstraining.
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Auch das Praxis-Team ist voll auf den THW eingestellt.
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"Durch diese Langzeitverletzungen ist der ohnehin kleine Kader noch einmal erheblich dezimiert
worden. Und das hat seine Folgen", sagt
Dr. Brandecker. "Jetzt müssen
wir ganz besonders aufpassen, daß bei den verbleibenden Spielern aufgrund der hohen
Anforderungen im Trainings- und Spielbetrieb keine Überbelastungen auftreten." Trainer und Betreuer
sind in Zusammenarbeit mit dem Arzt gefordert, etwaige Anzeichen bei den Sportlern
frühzeitig zu erkennen. Doch
Dr. Brandecker weiß auch, daß es keine
standardisierten Tests gibt, ob es mit der Belastbarkeit tatsächlich bergab geht.
"Die Spieler sind Profis mit entsprechender Einstellung. Sie wollen immer ihr Bestes geben.
Deswegen müssen sie selbst in sich hinein horchen und auf ihren Körper hören."
Die Diagnostik eines Überlastungszustandes basiert in der Praxis derzeit auf folgenden
Befunden: Das "Auge" des Trainers bzw. Betreuers, das bei Spitzensportlern gelegentlich auch
durch ein "gutes Belastungsgefühl" ersetzt wird, erkennt frühzeitig eine Verschlechterung der
Leistungsfähigkeit im Training bzw. der Technik. Das regelmäßige Erfragen von typischen
Befindlichkeitsstörungen unterstützt die Diagnostik. Im Vordergrund steht dabei das
Gefühl einer chronisch müden Arbeitsmuskulatur ("schwere Beine").
Für den sportlichen Erfolg des Handballspielers ist eine entsprechend entwickelte
psychomotorische Leistungsfähigkeit entscheidene Voraussetzung, um auf die komplexen, ständig wechselnden Spielsituationen möglichst schnell und richtig reagieren zu können. Typisch für das Handballspiel sind bis zu
80 Sekunden dauernde Laufleistungen, bei denen die Energiegewinnung durch laktatbildende
Stoffwechselprozesse erfolgt. Diese kurzzeitigen Beanspruchungen bewirken einen Anstieg der
Blut-Laktatkonzentration und somit eine akute Erschöpfung. Ständig wiederkehrende
Beanspruchungen dieser Art können zu einer chronischen Erschöpfung führen.
Die psychomotorische Leistungsfähigkeit des Spielers wäre in letzterem Fall folglich längerfristig vermindert.
In diesem Zusammenhang lobt
Dr. Brandecker die gute Zusammenarbeit im
Team des THW Kiel. "Bei der enormen Belastung kann immer etwas passieren. Aber deswegen sind Spiel,
Training und medizinische Betreuung gut aufeinander abgestimmt." Zudem appeliert der Mannschaftsarzt an
die Einstellung seiner Spieler: "Zum Profitum gehört auch ein entsprechend dem Leistungssport orientierter
Lebenswandel. Die nötigen Ruhephasen und eine gesunde Ernährung sollten auf jedem Tagesplan stehen."
Manches Mal müsse man bei der Behandlung von Verletzungen aus medizinischer Sicht allerdings
einige Kompromisse eingehen, gibt der Arzt "schweren Herzens" zu, "aber mit dem Leistungssport sind nun einmal
für alle Beteiligten andere Erfordernisse verbunden." Trotzdem seien in seinen mittelweile 13 Jahren in
Reihen der Zebras niemals weder von der Vereinsführung noch vom Trainer Druck ausgeübt worden, daß
die Rekonvaleszenz irgendeines Athleten zu lange andauern würde. "An oberster Stelle steht immer die Gesundheit des Sportlers."
Mit den heutigen Behandlungsmethoden ist aber schon vieles deutlich schneller möglich als
noch zur Anfangszeit von Dr. Brandecker. "Der heutige Leistungssportler ist
nicht mehr mit einem herkömmlichen Kassenpatienten zu vergleichen. Die heutige tägliche Reha-Arbeit,
die zusätzliche Massage und die gesamte medizinische Rundum-Versorgung hat sich in gleichem Maße erheblich verbessert
wie die Anforderungen aus dem Spielbtrieb gestiegen sind." Zwar lassen auch heute noch bestimmte
Situationen keine andere Möglichkeiten als einen mitunter schwerwiegenden, aber notwendigen operativen
Eingriff zu. "In solch einem Fall tut es mir dann aufgrund der besonderen Beziehung immer
besonders leid, eine solche Entscheidung zu fällen", sagt Dr. Brandecker. Aber aus
dieser Tasache abgeleitet, dürfe man "nicht in therapeutischen Nihilismus verfallen und den Sportler mit einem
'Das wird schon wieder' abtun." Und in einem ist sich er sich ganz sicher: "Nichts hält die Gedanken eines Langzeitverletzen
aufrechter, als zu wissen, daß es voran geht."