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04.08.2008 Mannschaft

Mait Patrail auch in Rumänien mächtig unter Dampf

Von Dr. Oliver Schulz:

Mait Patrail - ab 2010 möglicherweise beim THW - wurde jüngst Torschützenkönig der U20-EM mit 83/16 Treffern.
Klicken Sie zum Vergrößern! Mait Patrail - ab 2010 möglicherweise beim THW - wurde jüngst Torschützenkönig der U20-EM mit 83/16 Treffern.

Viele mögen mit der Abkürzung MP bisher eine automatische Waffe assoziiert haben. Ein gerade einmal 20-jähriger außergewöhnlicher Handballer mit denselben Initialen und eingebauter Torgarantie hat im Baltikum bereits für Angst und Schrecken unter Torhütern gesorgt: Mait Patrail verließ nach Probetrainings in Deutschland, Spanien und der Schweiz vor kurzem seine Heimat im ländlichen Südosten Estlands Richtung Schaffhausen und wird vielleicht ab 2010 im Trikot des THW Kiel zu sehen sein.
Es ist offensichtlich ganz egal, wo Mait Patrail, Neuzugang bei Kadetten Handball und eventuell künftiger Kieler, das Handballparkett betritt. Wo er ist, gibt es vor allem eines: Tore am Fließband. Wie schon früher im EHF-Pokal für seinen Stammverein Pölva Serviti avancierte der Halblinke mit der wilden Mähne und dem Spitznamen "Armageddon" letzte Woche auch bei der U20-EM in Rumänien im Nu zur Attraktion des Turniers.
In Pölva reifte ein Supertalent heran
Noch vor einigen Jahren war man auf der Suche nach bewegten Bildern von Patrails unstillbarem Torhunger auf spärliche Videos in den Internetausgaben estnischer Zeitungen angewiesen. Seit der Spielzeit 2004/05 in Diensten Pölvas setzte Patrail unter seinem Trainer Kalmer Musting (43) in der höchsten estnischen Spielklasse und der baltischen Liga durch seine Torgefährlichkeit einige dicke Ausrufezeichen. Mehrfach wurde er Torschützenkönig in Estland und gleichzeitig als bester Halblinker der Liga ausgezeichnet. Schon bald wurde der Shooter mit Basketballstars aus dem Baltikum verglichen und dem von Musting als "Gewinnertyp" bezeichneten Jahrzehnte-Talent eine große Karriere vorausgesagt.
Handballbegeisterte Familie
Mait Patrail stammt aus einer dem Handball verschriebenen Familie: Vater Maidu (45) lief von 1986 bis 1991 selbst für Pölva auf. Er soll weder über schwedische noch englische Sprachkenntnisse verfügt haben, als er daraufhin den Sprung nach Schweden wagte. Dort angekommen bestritt der Kreisläufer für Anderstorps SK über 250 Partien und erzielte mehr als 800 Tore. Damit liegt er noch heute unter den Top-10 des Vereins. Nach seiner Rückkehr in die Heimat war Patrail sr. zwischen 2001 und 2003 noch einmal für Pölva tätig.

Auch Mutter Anneli (43) ist dem Handball verbunden. Maits anderthalb Jahre jüngere Schwester Janeli spielt als Kreisläuferin ebenfalls in Pölva und schaffte im Frühjahr den Sprung ins Allstar-Team der Liga.

Zügig in ganz Europa bekannt
Seine ersten Erfahrungen auf europäischem Parkett sammelte Mait Patrail - damals noch Schüler des "Pölva Ühisgümnaasium" - mit nur 16 Lenzen in der Saison 2004/05. Pölva trat in Runde 3 des Challenge Cups an, schied jedoch postwendend aus. Als der Klub ein Jahr später im EHF Cup an den Start ging, wurde der Jungspund relativ zügig bis nach Südeuropa bekannt. In den vier Partien bis zum Ausscheiden gegen Koper in Runde 2 hatte Patrail 35 Mal getroffen.

In der Spielzeit 2006/07 erregte der damals 18-jährige noch größeres Aufsehen, als er im EHF-Cup bis zum Ausscheiden im Achtelfinale in acht Partien sage und schreibe 92 Tore erzielte. Damit übertraf er sogar den auf den Tag genau vier Jahre älteren Kieler Weltklasse-Halblinken Nikola Karabatic als gefährlichsten Schützen der Königsklasse um drei Tore.

Zu Probetrainings eingeladen
Mit größtem Interesse verfolgte die estnische Presse ab dem 10. Oktober 2006 die Einladung Patrails zu einem Probetraining beim THW Kiel auf Schritt und Tritt. Zwei Monate später nahm er mit der Nationalmannschaft an einem Acht-Nationen-Turnier in Bologna teil und kehrte mit dem Spitznamen "Armageddon" in die Heimat zurück. Im Sommer 2007 erhielt der Halblinke ein Stipendium aus der Hand des estnischen Kultusministers. Der inzwischen in Deutschland, Ungarn und der Schweiz umworbene Rohdiamant entschied sich damals, Pölva weiter die Treue zu halten. Wenig später wählte man ihn in seiner Heimat zum Handballer des Jahres.

Im Januar 2008 wurde Patrail auch von San Antonio zum Probetraining eingeladen. Nach 16-stündiger Reise traf er dort verspätet ein, zudem war sein Gepäck abhanden gekommen. Mit neuem Schuhwerk ausgestattet hinterließ der Este trotz Müdigkeit prompt einen beachtlichen Eindruck. Eine sofortige Verpflichtung zerschlug sich jedoch - teils aufgrund der Ablöseforderungen Pölvas und teils aufgrund der fraglichen Spielanteile des Youngsters in dem auf der Königsposition mit Kjelling gut besetzten Kader. Die Spanier wollten ihn jedoch im Auge behalten und eventuell später an sich binden. Ein paar Wochen später soll der Halblinke auch in Magdeburg ein Probetraining absolviert haben.

Attraktion der U20-EM in Rumänien
Wie nicht anders zu erwarten, wurde Patrail letzte Woche quasi vom ersten Ballkontakt an auch zur Attraktion der U20-EM in Rumänien. In der Vorrunde mußte sich Estland in Gruppe B mit Spanien, Schweden und Ungarn auseinandersetzen. Im Auftaktspiel gegen die Iberer gelang Patrail ein Dutzend Feldtore, zudem verwandelte er seine beiden Siebenmeter. Bis zum 6:7 (17.) war der 20-jährige gar einziger Torschütze der Balten, und bis zur Pause hatte er ganze neun Mal das gegnerische Tornetz geprüft. Obwohl er damit im Alleingang für mehr als die Hälfte der Treffer seiner Mannschaft verantwortlich zeichnete, mußte sich diese mit einem 27:27-Unentschieden zufrieden geben.

Tags darauf kassierte Estland eine herbe 26:42-Schlappe gegen Schweden. Von Patrails 23 Würfen fanden neun ihr Ziel, sein einziger Strafwurf jedoch nicht. Fünf der sieben ersten Treffer Estlands trugen seine Handschrift und bescherten dem kleinen Land nach gut einer Viertelstunde sogar die 7:6-Führung. Dann jedoch übernahmen die Blau-Gelben unaufhaltsam das Kommando und zogen bereits zur Pause auf 11:20 davon.

Gegen Ungarn hatte Patrail dann "zu alter Torgefährlichkeit zurückgefunden": ganze 15 Mal mußten die Torhüter der Magyaren hinter sich greifen. Neben zehn Feldtoren versenkte das Supertalent alle seine fünf Siebenmeter. Zwischen der 15. und 30. Minute war gegen Patrail kein Kraut der Puszta gewachsen, netzte er doch sage und schreibe acht Mal ein. Da seine Mannschaftskollegen zusammen bis zur Schlußsirene aber nur ein Tor mehr warfen als Patrail selbst, unterlag Estland dennoch mit 31:33.

Mit 38/7 Treffern aus drei Partien - also fast 13 Toren pro Spiel - führte Mait Patrail nach der Gruppenphase die Torschützenliste überlegen an. Sein notorischer Torriecher war zwar für 45% aller estnischen Treffer verantwortlich, er allein war aber für die Mannschaft zu wenig. Der Punkt gegen Spanien sollte ihr einziger meßbarer Erfolg bleiben und bedeutete den Schlussrang in Gruppe B.

Torflut hält in der Zwischenrunde an
In der Zwischenrunde unterlag Estland zunächst Polen mit 28:32. Elf Würfe Patrails zappelten im Netz der Rot-Weißen, darunter zwei von vier Siebenmetern. Der Halblinke teilte sich sein Schießpulver diesmal hälftig auf. Sechs Mal traf er vor der Pause, fünf Mal im zweiten Durchgang. Tags darauf verlor Blau-Schwarz-Weiß gegen Slowenien mit 35:39. Der Slowene Stas Skube erzielte aus 14 Versuchen zwar beachtliche 13 Treffer, wurde aber dennoch von Patrail übertroffen, der es diesmal bei 23 Würfen ganze 16 Mal klingeln ließ. Kein einziger seiner vier Strafwürfe verfehlte sein Ziel.

Gegen Ende der Zwischenrunde war Estland als Letzter der Gruppe 3 weiter sieglos. Mait Patrail allerdings hatte sich mittlerweile in eine eigene Sphäre geschossen: seinen Schnitt von 13 Treffern pro Spiel konnte "Armageddon" nämlich halten und hatte dadurch die Vormachtstellung in der Torschützenliste auf uneinholbare 65/13 Tore aus fünf Partien ausgebaut.

Estland schließlich auf Rang 14
Bei den Platzierungsspielen um die Ränge 13-16 fuhr Estland beim 27:25 gegen Kroatien seinen ersten Sieg ein. Verläßlich wie ein Uhrwerk trug Patrail auch hier 13 Treffer bei. Alle drei Siebenmeter verwandelte er sicher. Zehn Minuten vor der Sirene führte Kroatien noch mit 23:25, hatte die Rechnung jedoch ohne den Torjäger gemacht. Der sorgte in der Schlussphase mit drei Toren führ die Entscheidung zugunsten der Balten.

Im abschließenden Spiel um Platz 13 hieß der Gegner erneut Slowenien. Wie schon in der Zwischenrunde zog Estland den Kürzeren (26:35). Der Sieger hatte sich diesmal besser auf Patrail eingestellt, und so konnte sich dieser "nur" fünf Mal in die Torschützenliste eintragen. Insgesamt wurde der Este mit 83/16 Treffern aus sieben Spielen überlegener Torschützenkönig des Turniers.

Schon 2007 bei der U19-EM in Göteborg war Patrail mit 79 Treffern Torschützenkönig und wurde als bester Halblinker ins All-Star-Team berufen. Auch 2006 bei der U18-EM in Tallinn stand er mit 84 Treffern in der Auswahl der Besten.

Karriere in der Schweiz - später beim THW Kiel?
Das geduldige Werben der Schaffhauser Kadetten um Mait Patrail dürfte sich ohne Zweifel gelohnt haben. Auch wenn der Youngster kurz vor dem Probetraining beim THW Kiel der norwegischen Zeitung "Bergens Tidende" gegenüber angab, er wisse nicht, ob er bereits das Niveau für die höchste deutsche Spielklasse besitze, dürfte die schweizer Liga SHL um eine Attraktion reicher sein. Patrail kommt als estnischer Meister der letzten beiden Jahre, bester Halblinker der Saison und erneuter Torschützenkönig der estnischen Liga (245 Treffer) nach Schaffhausen.

Im orangefarbenen Trikot der Kadetten dürfte dem 1,98 m großen und 94 Kilo schweren Shooter jedenfalls ein längerer Aufenthalt beschieden sein als seinem Landsmann Roald Karotom, dem Ende 2001 als Ersatz für den verletzten Attila Kotorman nur ein Intermezzo in Schaffhausen vergönnt war. Patrails Dreijahresvertrag soll eine exklusive Ausstiegsklausel für den THW Kiel ab Juli 2010 enthalten. Der deutsche Rekordmeister hatte sich an der Ablösesumme für Pölva Serviti beteiligt, wo das Juwel noch bis 2009 gebunden war.

(von Dr. Oliver Schulz)


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