Von Dr. Oliver Schulz:
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Mait Patrail - ab 2010 möglicherweise beim THW -
wurde jüngst Torschützenkönig der U20-EM mit 83/16 Treffern.
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Viele mögen mit der Abkürzung MP bisher eine automatische
Waffe assoziiert haben. Ein gerade einmal 20-jähriger
außergewöhnlicher Handballer mit denselben Initialen und
eingebauter Torgarantie hat im Baltikum bereits für Angst
und Schrecken unter Torhütern gesorgt: Mait Patrail verließ
nach Probetrainings in Deutschland, Spanien und der Schweiz
vor kurzem seine Heimat im ländlichen Südosten Estlands
Richtung Schaffhausen und wird vielleicht ab 2010 im Trikot
des THW Kiel zu sehen sein.
Es ist offensichtlich ganz egal, wo Mait Patrail, Neuzugang
bei Kadetten Handball und eventuell künftiger Kieler, das
Handballparkett betritt. Wo er ist, gibt es vor allem eines:
Tore am Fließband. Wie schon früher im EHF-Pokal für seinen
Stammverein Pölva Serviti avancierte der Halblinke mit der
wilden Mähne und dem Spitznamen "Armageddon" letzte Woche
auch bei der U20-EM in Rumänien im Nu zur Attraktion des
Turniers.
In Pölva reifte ein Supertalent heran
Noch vor einigen Jahren war man auf der Suche nach bewegten
Bildern von Patrails unstillbarem Torhunger auf spärliche
Videos in den Internetausgaben estnischer Zeitungen angewiesen.
Seit der Spielzeit 2004/05 in Diensten Pölvas setzte Patrail
unter seinem Trainer Kalmer Musting (43) in der höchsten
estnischen Spielklasse und der baltischen Liga durch seine
Torgefährlichkeit einige dicke Ausrufezeichen. Mehrfach wurde
er Torschützenkönig in Estland und gleichzeitig als bester
Halblinker der Liga ausgezeichnet. Schon bald wurde der
Shooter mit Basketballstars aus dem Baltikum verglichen und
dem von Musting als "Gewinnertyp" bezeichneten Jahrzehnte-Talent
eine große Karriere vorausgesagt.
Handballbegeisterte Familie
Mait Patrail stammt aus einer dem Handball verschriebenen Familie:
Vater Maidu (45) lief von 1986 bis 1991 selbst für Pölva auf.
Er soll weder über schwedische noch englische Sprachkenntnisse
verfügt haben, als er daraufhin den Sprung nach Schweden wagte.
Dort angekommen bestritt der Kreisläufer für Anderstorps SK über
250 Partien und erzielte mehr als 800 Tore. Damit liegt er noch
heute unter den Top-10 des Vereins. Nach seiner Rückkehr in die
Heimat war Patrail sr. zwischen 2001 und 2003 noch einmal für
Pölva tätig.
Auch Mutter Anneli (43) ist dem Handball verbunden. Maits
anderthalb Jahre jüngere Schwester Janeli spielt als Kreisläuferin
ebenfalls in Pölva und schaffte im Frühjahr den Sprung ins
Allstar-Team der Liga.
Zügig in ganz Europa bekannt
Seine ersten Erfahrungen auf europäischem Parkett sammelte Mait
Patrail - damals noch Schüler des "Pölva Ühisgümnaasium" - mit
nur 16 Lenzen in der Saison 2004/05. Pölva trat in Runde 3 des
Challenge Cups an, schied jedoch postwendend aus. Als der Klub
ein Jahr später im EHF Cup an den Start ging, wurde der Jungspund
relativ zügig bis nach Südeuropa bekannt. In den vier Partien bis
zum Ausscheiden gegen Koper in Runde 2 hatte Patrail 35 Mal getroffen.
In der Spielzeit 2006/07 erregte der damals 18-jährige noch größeres
Aufsehen, als er im EHF-Cup bis zum Ausscheiden im Achtelfinale in
acht Partien sage und schreibe 92 Tore erzielte. Damit übertraf er
sogar den auf den Tag genau vier Jahre älteren Kieler Weltklasse-Halblinken
Nikola Karabatic als gefährlichsten Schützen
der Königsklasse um drei Tore.
Zu Probetrainings eingeladen
Mit größtem Interesse verfolgte die estnische Presse ab dem 10. Oktober
2006 die Einladung Patrails zu einem Probetraining beim THW Kiel auf
Schritt und Tritt. Zwei Monate später nahm er mit der Nationalmannschaft
an einem Acht-Nationen-Turnier in Bologna teil und kehrte mit dem
Spitznamen "Armageddon" in die Heimat zurück. Im Sommer 2007 erhielt
der Halblinke ein Stipendium aus der Hand des estnischen Kultusministers.
Der inzwischen in Deutschland, Ungarn und der Schweiz umworbene Rohdiamant
entschied sich damals, Pölva weiter die Treue zu halten. Wenig später
wählte man ihn in seiner Heimat zum Handballer des Jahres.
Im Januar 2008 wurde Patrail auch von San Antonio zum Probetraining
eingeladen. Nach 16-stündiger Reise traf er dort verspätet ein, zudem
war sein Gepäck abhanden gekommen. Mit neuem Schuhwerk ausgestattet
hinterließ der Este trotz Müdigkeit prompt einen beachtlichen Eindruck.
Eine sofortige Verpflichtung zerschlug sich jedoch - teils aufgrund
der Ablöseforderungen Pölvas und teils aufgrund der fraglichen
Spielanteile des Youngsters in dem auf der Königsposition mit Kjelling
gut besetzten Kader. Die Spanier wollten ihn jedoch im Auge behalten
und eventuell später an sich binden. Ein paar Wochen später soll der
Halblinke auch in Magdeburg ein Probetraining absolviert haben.
Attraktion der U20-EM in Rumänien
Wie nicht anders zu erwarten, wurde Patrail letzte Woche quasi vom
ersten Ballkontakt an auch zur Attraktion der U20-EM in Rumänien. In
der Vorrunde mußte sich Estland in Gruppe B mit Spanien, Schweden und
Ungarn auseinandersetzen. Im Auftaktspiel gegen die Iberer gelang
Patrail ein Dutzend Feldtore, zudem verwandelte er seine beiden Siebenmeter.
Bis zum 6:7 (17.) war der 20-jährige gar einziger Torschütze der Balten,
und bis zur Pause hatte er ganze neun Mal das gegnerische Tornetz geprüft.
Obwohl er damit im Alleingang für mehr als die Hälfte der Treffer seiner
Mannschaft verantwortlich zeichnete, mußte sich diese mit einem
27:27-Unentschieden zufrieden geben.
Tags darauf kassierte Estland eine herbe 26:42-Schlappe gegen Schweden.
Von Patrails 23 Würfen fanden neun ihr Ziel, sein einziger Strafwurf
jedoch nicht. Fünf der sieben ersten Treffer Estlands trugen seine
Handschrift und bescherten dem kleinen Land nach gut einer Viertelstunde
sogar die 7:6-Führung. Dann jedoch übernahmen die Blau-Gelben unaufhaltsam
das Kommando und zogen bereits zur Pause auf 11:20 davon.
Gegen Ungarn hatte Patrail dann "zu alter Torgefährlichkeit zurückgefunden":
ganze 15 Mal mußten die Torhüter der Magyaren hinter sich greifen. Neben
zehn Feldtoren versenkte das Supertalent alle seine fünf Siebenmeter.
Zwischen der 15. und 30. Minute war gegen Patrail kein Kraut der Puszta
gewachsen, netzte er doch sage und schreibe acht Mal ein. Da seine
Mannschaftskollegen zusammen bis zur Schlußsirene aber nur ein Tor mehr
warfen als Patrail selbst, unterlag Estland dennoch mit 31:33.
Mit 38/7 Treffern aus drei Partien - also fast 13 Toren pro Spiel -
führte Mait Patrail nach der Gruppenphase die Torschützenliste überlegen
an. Sein notorischer Torriecher war zwar für 45% aller estnischen Treffer
verantwortlich, er allein war aber für die Mannschaft zu wenig. Der Punkt
gegen Spanien sollte ihr einziger meßbarer Erfolg bleiben und bedeutete
den Schlussrang in Gruppe B.
Torflut hält in der Zwischenrunde an
In der Zwischenrunde unterlag Estland zunächst Polen mit 28:32. Elf
Würfe Patrails zappelten im Netz der Rot-Weißen, darunter zwei von
vier Siebenmetern. Der Halblinke teilte sich sein Schießpulver diesmal
hälftig auf. Sechs Mal traf er vor der Pause, fünf Mal im zweiten
Durchgang. Tags darauf verlor Blau-Schwarz-Weiß gegen Slowenien mit
35:39. Der Slowene Stas Skube erzielte aus 14 Versuchen zwar beachtliche
13 Treffer, wurde aber dennoch von Patrail übertroffen, der es diesmal
bei 23 Würfen ganze 16 Mal klingeln ließ. Kein einziger seiner vier
Strafwürfe verfehlte sein Ziel.
Gegen Ende der Zwischenrunde war Estland als Letzter der Gruppe 3
weiter sieglos. Mait Patrail allerdings hatte sich mittlerweile in
eine eigene Sphäre geschossen: seinen Schnitt von 13 Treffern pro
Spiel konnte "Armageddon" nämlich halten und hatte dadurch die
Vormachtstellung in der Torschützenliste auf uneinholbare 65/13 Tore
aus fünf Partien ausgebaut.
Estland schließlich auf Rang 14
Bei den Platzierungsspielen um die Ränge 13-16 fuhr Estland beim 27:25
gegen Kroatien seinen ersten Sieg ein. Verläßlich wie ein Uhrwerk trug
Patrail auch hier 13 Treffer bei. Alle drei Siebenmeter verwandelte er
sicher. Zehn Minuten vor der Sirene führte Kroatien noch mit 23:25,
hatte die Rechnung jedoch ohne den Torjäger gemacht. Der sorgte in der
Schlussphase mit drei Toren führ die Entscheidung zugunsten der Balten.
Im abschließenden Spiel um Platz 13 hieß der Gegner erneut Slowenien.
Wie schon in der Zwischenrunde zog Estland den Kürzeren (26:35). Der
Sieger hatte sich diesmal besser auf Patrail eingestellt, und so
konnte sich dieser "nur" fünf Mal in die Torschützenliste eintragen.
Insgesamt wurde der Este mit 83/16 Treffern aus sieben Spielen
überlegener Torschützenkönig des Turniers.
Schon 2007 bei der U19-EM in Göteborg war Patrail mit 79 Treffern
Torschützenkönig und wurde als bester Halblinker ins All-Star-Team
berufen. Auch 2006 bei der U18-EM in Tallinn stand er mit 84 Treffern
in der Auswahl der Besten.
Karriere in der Schweiz - später beim THW Kiel?
Das geduldige Werben der Schaffhauser Kadetten um Mait Patrail dürfte
sich ohne Zweifel gelohnt haben. Auch wenn der Youngster kurz vor dem
Probetraining beim THW Kiel der norwegischen Zeitung "Bergens Tidende"
gegenüber angab, er wisse nicht, ob er bereits das Niveau für die
höchste deutsche Spielklasse besitze, dürfte die schweizer Liga SHL
um eine Attraktion reicher sein. Patrail kommt als estnischer Meister
der letzten beiden Jahre, bester Halblinker der Saison und erneuter
Torschützenkönig der estnischen Liga (245 Treffer) nach Schaffhausen.
Im orangefarbenen Trikot der Kadetten dürfte dem 1,98 m großen und 94
Kilo schweren Shooter jedenfalls ein längerer Aufenthalt beschieden
sein als seinem Landsmann Roald Karotom, dem Ende 2001 als Ersatz für
den verletzten Attila Kotorman nur ein Intermezzo in Schaffhausen
vergönnt war. Patrails Dreijahresvertrag soll eine exklusive Ausstiegsklausel
für den THW Kiel ab Juli 2010 enthalten. Der deutsche Rekordmeister hatte
sich an der Ablösesumme für Pölva Serviti beteiligt, wo das Juwel noch
bis 2009 gebunden war.
(von Dr. Oliver Schulz)