14.-30.01.2012 - Letzte Aktualisierung: 30.01.2012 | EM 2012 |
Update #13 | Update vom 30.01. |
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 14.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 16.01.2012:
Knapp fünf Stunden sollte die Tour dauern. Weil die Heizung auf Hochtouren arbeitete, pendelte sich die Temperatur schnell bei gefühlten 40 Grad ein. Und weil dem Bus die Toilette fehlte, war Trinken keine Lösung. Zwar hielt der Bus immer wieder abseits der Autobahn in entlegenen Dörfern an. Bei den Blitz-Stopps auf knastmäßig abgeriegelten Bahnhöfen konnte aber nur ein anderes Bedürfnis gestillt werden, das in Serbien offenbar ein alltägliches ist - Rauchen.
Kein Serbe trank, und wir fünf Deutschen lernten schnell. Gelegentlich hielt der Bus überraschend auf dem Standstreifen, um Passagiere zu entlassen. Einmal stiegen aus dem Nichts zwei bullige Kontrolleure zu. Lustig, schließlich dürfte angesichts der Sicherheitsmaßnahmen das Schwarzfahren in einem serbischen Bus so schwierig sein wie die Flucht aus einem deutschen Gefängnis. Die Tortur endete allerdings mit Feuerwerk: Da hier das neue Jahr erst am 14. Januar beginnt, wurden wir von einer fröhlichen Stadt in Silvester-Stimmung empfangen.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 16.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 17.01.2012:
Nicht alle hatten bei ihrer Quartiersuche Glück, denn Nis ist wegen der mazedonischen Invasion völlig ausgebucht. So musste ein Kollege gar in ein abgelegenes Sanatorium ausweichen, mit Alarmknopf und Rollstuhl an der Zimmertür. Zudem sind die Preise explodiert. Kostete ein Bett hier vor dem Turnier knapp 30 Euro, sind jetzt 80 Euro fällig. Unser kleines Hostel hat der EM-Wucher dagegen nicht gefunden. Wir zahlen für unsere Bude jeweils 25 Euro, handgemachtes Omelette am Morgen und lustige Mazedonien-Fans am Abend inklusive.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 17.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 18.01.2012:
Wovon der reduzierte Mann in Deutschland träumt, ist in Serbien gelebter Alltag. Am Fluss Nisava, der immerhin mitten durch die Stadt Nis fließt, stehen die Männer Seite an Seite am Ufer, um sich bei Tageslicht zu erleichtern. Hemmungen Fehlanzeige. Wer hier einen 400-Gramm-Burger isst, der weiß, wie sich eine Boa fühlen muss, die ein Wildschwein verschlungen hat. Und das Bier wird in Plastikflaschen verkauft, deren Größe schlicht pervers ist. Die Marke "Pilsplus" gibt es als neues 2,2-Liter-Model für knapp 1,50 Euro. 200 Milliliter, so der Slogan, seien dabei geschenkt. In Köln wäre das ein volles Glas. Und die Frauen? Hauteng und sehr knapp - das gilt auch für die Wintergarderobe der Damen, die zumindest im Textilbereich stark reduziert sind.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 18.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 19.01.2012:
Nis, das wird bei einem Rundgang deutlich, hat aber auch dunklere Zeiten erlebt. So findet sich drei Kilometer außerhalb des Zentrums ein Turm, in dem knapp 60 Schädel eingearbeitet sind. Angeblich sollen es einmal 952 gewesen sein, die Anfang des 19. Jahrhunderts noch auf den Schultern serbischer Soldaten saßen. Die Türken, die mehr als vier Jahrhunderte lang Nis besetzt hatten, errichteten den "Schädelturm" an der belebten Militärstraße nach Istanbul, um die Einheimischen einzuschüchtern. Selbst lebten sie in einer gewaltigen Festung, die noch heute die Stadt überragt. Allerdings sind aus Gefängnissen inzwischen Cafes geworden. Direkt daneben erinnert das ehemalige Konzentrationslager "Crveni Krst" an die deutschen Besatzer (1941/44). Nach dem Abzug der Türken wurde Nis großflächig nach westeuropäischem Vorbild umgebaut, breite Boulevards bestimmen seitdem das Stadtbild. Eine kleine orientalische Ecke ist geblieben: Die Gasse "Kopitareva", die schönste in Nis. Hier wohnen wir.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 19.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 20.01.2012:
In den kleineren Kneipen ist alles geregelt: Rauchen erlaubt, Nichtrauchen geduldet. Allgegenwärtig ist der rote Kreis, der eine brennende Zigarette umschließt. Wer denkt, dies würde bedeuten, das Rauchen zu unterlassen, irrt. Das Gegenteil ist der Fall. Auch in unserem Hostel kleben diese Schilder an jeder Tür. Beruhigend immerhin, dass darunter Feuerlöscher stehen. Nichtraucher gibt es nicht, oder sie leben sehr zurückgezogen. Und der Eindruck erhärtet sich, dass auch sie ins neue Jahr mit dem Vorsatz gestartet sind, endlich mit dem Nichtrauchen aufzuhören.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 20.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 21.01.2012:
Serben und Mazedonier bezeichnen sich als Brüder, auch wenn die Sprachen so unterschiedlich zu sein scheinen, dass die direkte Kommunikation holprig ist. Aber in den Tagen von Nis gab es kaum ein Lokal, das nicht mit gelb-roten Fahnen geschmückt war. Epizentrum war der "Club Ypsilon", nur wenige Meter von der Halle entfernt. Nach dem Sieg gegen Tschechien ließen hier die Nationalspieler kurzerhand ihren Bus anhalten und mischten sich geschlossen unters Partyvolk.
Im "Crazy Horse", einem Irish Pub im Zentrum, durften die Fans sogar auf einer kleinen Bühne mitfeiern, die als Schutzraum für die serbische Live-Band vorgesehen war. Am Ende griffen sie selbst zum Mikrofon, was der Qualität abträglich war, die Musiker aber für eine Zigarettenpause nutzten. Und wir? Uns gaben sie ein Bier aus und grölten "Deutschland, auf Wiedersehen". Hatten sie uns jüngst damit ein zügiges Aus gewünscht, war jetzt zu spüren, dass sie sich ehrlich auf ein Wiedersehen freuen. Und wir auch.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 21.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 23.01.2012:
Unserer hat einen beachtlichen Riss in der Scheibe, aber der scheint mit einem Aufkleber professionell abgedichtet zu sein. Auf der knapp 250 Kilometer langen Holperstrecke bleibt er unverändert. Im Kofferraum eine Sporttasche, auf dem Rücksitz einen Rucksack und zwei Flaschen Wasser - mehr passt in das Modell "55" nicht rein. Der Vermieter ist ein netter Typ, der einst mit Gerald Asamoah für Eintracht Braunschweig kickte. Der Tank ist schnell leer, bei 120 km/h ist Feierabend, aber weil er so schön schmal ist, passen auf der zweispurigen Autobahn gelegentlich drei nebeneinander. Angst? Als Fußgänger auf einem Zebrastreifen empfinde ich hier eine größere. Der Trip kostet 90 Euro, dafür wurde der "Kleinstwagen" (Wikipedia) aber vor dem Hotel abgeholt und zurück nach Nis gebracht.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 23.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 24.01.2012:
Streten Mitrovic (63) hat eine Herberge daraus gemacht. Blick auf die Donau, am Ende der Prachtstraße "Knez Mihailova", zu Fuße der Festung "Kalemegdan", dem Wahrzeichen der Stadt. Ein Glücksfall und dazu ein günstiger. Mein EM-Kompagnon und ich zahlen jeweils 50 Euro pro Nacht, die Hälfte dessen, was im Medienhotel fällig gewesen wäre. Das Frühstück wird von Streten frisch beim Bäcker eingekauft, eine Küche hat er nicht. Braucht er nicht. Das "Kalemegdan Park 1899" beherbergt das einzige Row-Food-Restaurant Serbiens, das Essen kommt roh auf den Tisch.
Ein Witz, dass wir aus dem Grillfleisch-Mekka Nis kommend, hier gelandet sind. Unser Mittagessen bestand heute aus edlem Rinderfilet, das drei Wochen in Öl eingelegt gewesen war. Gemäß der strengen Regeln gab es als Beilage Gurkenscheiben statt Brot (gebacken). Immerhin: Das Fleisch kam zwar als Tartar, aber die Portion blieb serbisch - 300 Gramm für jeden.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 24.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 25.01.2012:
Antworten geben die Studentinnen Miljana Pesic und Jelena Ivanovic. Die Eichenblätter: Überbleibsel des Weihnachtsfestes, das hier am 6. Januar begangen wird. Der Brauch sieht vor, dass Vater und Sohn in den Wald gehen, um die Äste zu schneiden. Tatsächlich werden sie auf dem Markt gekauft. In der guten Stube angezündet, soll die Intensität des Knisterns darüber Aufschluss geben, wie glücklich das Jahr werden wird. Die Fotos: Dabei handelt es sich tatsächlich um Todesanzeigen, mit denen die Nachbarn zur Beerdigung eingeladen werden. Ein blauer Rand kündigt an, dass der Tod nach Auffassung der Angehörigen zu früh gekommen ist. Bei einem schwarzen Rand bewegte sich das Ableben im vorgesehenen Zeitraum.
Bei den jungen Frauen geht weniger die Angst vor dem Tod um. Zumal die meisten sowieso an eine zweite Chance glauben. Sie beunruhigt viel mehr, dass eines Tages ein unvorteilhaftes Bild von ihnen an einem Baum kleben wird.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 25.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 26.01.2012:
Nur eine Facette einer verrückten Stadt, die auch über außergewöhnliche Nachtclubs verfügen soll. Der Test: Besuch im "Stefan Braun", ein düster gehaltener Schuppen in einem Plattenbau. Der Fahrstuhl hat zwei Knöpfe, die "0" und die "9". Der Club besteht im Wesentlichen aus zwei Tresen, auf und hinter denen rund 40 Serben mit blinkenden Ringen, Trillerpfeifen und gelben Sicherheitswesten arbeiten. Mitfeiern, würde es wohl besser treffen. Dazu Livemusik und ausgelassene Stimmung, wie sie für die Serben typisch zu sein scheint. Belgrad, so mein Anfangsverdacht, könnte auch ohne Handball-EM eine Reise wert sein.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 26.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 27.01.2012:
Diesmal bestimmten die Serben die Regeln. Gefühlt qualifizierten sich Ivano Balic & Co in einer anderen Welt für diese, die ab heute eine andere sein wird. Einen Vorgeschmack bekam ich gestern, als ich meinen verqualmten Pulli lüften wollte. Nur Sekunden später knallte ein Schneeball an die Scheibe. Ich dachte erst, mein Hamburger WG-Kollege hätte sich einen Spaß erlaubt. Hatte er nicht, des Rätsels Lösung kannte er trotzdem: "Schau Dich mal an." Den Vollbart meinte er nicht. Aber das T-Shirt ("Croatia"), das mir Kroaten bei der WM 2005 in Tunesien geschenkt hatten. Es mitzunehmen, erfüllte zumindest den Tatbestand der Gedankenlosigkeit. Mehr Zielscheibe geht nicht. Zum Glück kann das serbische Muttchen, das in unserem Apartment jeden Morgen liebevoll Schuhe ausrichtet und T-Shirts faltet, kein Englisch. So blieb unentdeckt, dass hier einer wohnt, der auch mit Fans aus "Hrvatska" schon nette Zeiten verbracht hat.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 27.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 28.01.2012:
Gestern traf ich die Krieger in voller Besetzung im WC, offenbar dürfen sie nur gemeinsam rauchen. Oder sie sind schon so lange eine Einheit, dass sie den Entzug gleichzeitig verspüren. Pech für mich - sie benutzten jedes Urinal als Aschenbecher. Gelernt: Stehen sie auf dem Gang, ist die Toilette frei. Wenn nicht, eine Zigarettenlänge warten. Einmal bin ich in eine Gruppe Serben gerannt, die einen Halbkreis um ein Urinal gebildet hatte. In ihrer Mitte stand einer dieser Schrank-Soldaten. Auf den ersten Blick schien es, als hätten sie trotz Überzahl Angst. Tatsächlich starrten sie gebannt auf den ebenfalls sehr wehrhaft aussehenden Hund des Kriegers, der mit einem Ball erstaunliche Kunststücke vorführte. Entertainment auf der Toilette, dazu bewacht - und ohne Gebühr. Daran sollten sich die Tankstellen an deutschen Autobahnen ein Beispiel nehmen.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 28.01.2012)
Aus den Kieler Nachrichten vom 30.01.2012:
Im aktuellen Leben habe ich ein serbisches Handy (fünf Cent pro Minute nach Deutschland) und eine Herbergsmutter, die mich in Puschen zum Taxi begleitet. Ein Zuhause also. Das Lebensgefühl, das ich hier spüren durfte, ist leicht. Die Herzlichkeit rührend. Deshalb möchte ich mich bei denen bedanken, die mir unvergessliche Einblicke in ihr Land gewährten: Danke ("Hvala") Sreten Mitrovic, Zika Bogdanovic, Marija Petrovic, Miljana Pesic, Dusan Jocic, Jelena Ivanovic und Momir Ilic. Ein "Hvala" für meinen EM-Mitbewohner Nils, der mir half, die Eindrücke zu sortieren. Eines für meine Frau Tina, die mich dieses Abenteuer erleben ließ. "Do Videnja" - auf Wiedersehen. Versprochen.
(von Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 30.01.2012)
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