26.08.2004 | Olympia 2004 |
Seitdem läuft vor Kretzschmars geistigem Auge der "Film meines Lebens" ab. Nicht immer, aber immer wieder. Der Magdeburger erkennt sich dabei stets in der Rolle des Versagers, der mit einem Wurf eine ganze Mannschaft aus dem Himmel zurückgeholt habe, wie er unvermindert glaubt. Kretzschmar ist geständig, er nahm, was keiner von ihm je verlangte, alle Schuld auf sich. Deshalb hat der 31-Jährige seit vier Jahren darauf gewartet, in "Spanien, Teil II" den Helden zu spielen.
Am Mittwochabend ist die Gelegenheit günstig wie nie, dem Schicksal einen Streich zu spielen. Bundestrainer Heiner Brand muss fünf Werfer für das Siebenmeterstechen finden. Kretzschmar, Markus Baur und Daniel Stephan sind gesetzt. Brand fragt Torsten Jansen, der im intensiven Strafwurf-Training eine hohe Treffer-Quote verzeichnet hatte. Der Hamburger, auf Linksaußen hinter "Kretzsche" zuvor außen vor, ist bereit, Florian Kehrmann schließlich auch. Die Reihenfolge beeinflusst Kretzschmar. Brand: "Er wollte gerne anfangen."
Der Blonde mit dem Ziegenbart schreitet als Erster zur Siebenmeterlinie. Es ist 21.45 Uhr in Athen, ein magischer Moment. Kretzschmar dreht den harzigen Ball in seinen Händen und steht wieder David Barrufet gegenüber. Er entscheidet sich für dessen rechte Ecke, halbhoch, ein Fehler. Barrufet reißt sein Knie reflexartig nach oben, Kretzschmar erstarrt. Was hat er gedacht, als er scheinbar Hilfe ersuchend zur Hallendecke aufschaute? "Dass ich erneut alles verloren habe", erzählt er am Tag danach. Wieder verschossen, wieder Schurke, wieder im falschen Film. Gut, dass in "Spanien, Teil II" anschließend noch deutsche Helden auftreten. Der Kieler Torhüter Henning Fritz, der keinen Treffer zulässt, Torsten Jansen, zuvor nicht eingesetzt und nur ein Statist, und der Lemgoer Daniel Stephan, beim letzten Strafwurf um zehn vor zehn so zielsicher wie Gary Cooper im 1952 gedrehten Western-Klassiker "High Noon".
Als Stefan Kretzschmar wenige Minuten später in die deutsche Kabine eilt, entlädt sich seine Anspannung. Er ballt im Laufen die Fäuste, ein Schrei entschwindet seiner rauen Kehle, Erleichterung für einen Augenblick, doch nicht für alle Zeiten. Der tätowierte Punk wäre am Mittwochabend beinahe zum "David Beckham des deutschen Handballs" geworden, nicht als Pop-Idol, sondern als Protagonist der Peinlichkeit, in historischen Augenblicken das Runde nicht ins Eckige zu bringen.
Beckhams kickender Landsmann Gary Lineker hat einmal gesagt, Fußball sei ein einfaches Spiel, und an dessen Ende gewännen immer die Deutschen. Das vergleichbare Trauma der deutschen Handballer hieß bis Mittwoch Spanien, ein Land, gegen das sie bei den letzten drei Olympischen Spielen immer verloren hatten. Diese Geschichte ist nun Vergangenheit. Nur für Stefan Kretzschmar nicht. Er hat den schmerzlichen Sequenzen von Sydney eine neue hinzugefügt. Der Film seines Lebens wird weiter laufen. Er sei, sagt er, nicht cool genug, um diese Bilder aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Daran wird auch ein mögliches Happy End in Athen nicht viel ändern.
(Aus den Kieler Nachrichten vom 26.08.2004)
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