THW-Logo
14.01.2008 Mannschaft / Interview

KN-Interview mit Dr. Frank Pries: "Acht Spiele in elf Tagen sind zuviel"

Um Handballer vor Verletzungen zu schützen, plädiert THW-Mannschaftsarzt Frank Pries dafür, Turniere am Saisonende auszutragen

Aus den Kieler Nachrichten vom 14.01.2008:

Kiel - Für Handball-Profis ist der Terminkalender mit Nationalmannschaft, Bundesliga, DHB-Pokal und Champions League viel zu eng gestrickt. Das meint Dr. Frank Pries, seit zehn Jahren neben Dr. Detlev Brandecker einer der beiden Mannschaftsärzte des deutschen Rekordmeisters THW Kiel. Der Gelenkspezialist und Initiator des MARE-Klinikum Kronshagen plädiert dafür, die Turniere am Saisonende auszuspielen.
Kieler Nachrichten:
Der verletzte Rückraumspieler Filip Jicha ist nach seiner Knieoperation Ende Dezember wieder in den Trainingsbetrieb des THW zurückgekehrt. Seine Teilnahme an der EM hat er trotzdem abgesagt. Vernünftig?
Dr. Frank Pries:
Ja. Wir Ärzte haben ihm schon langfristig davon abgeraten. Seine Koordinationsfähigkeit ist nach dieser langen Pause noch nicht wieder hergestellt. Nach der ersten intensiven Belastung ist eine Kniescheibenreizung aufgetreten. Eine völlig normale Reaktion, die allerdings zeigt, dass die Muskulatur noch nicht wieder die alte ist. Das kann sie auch noch gar nicht sein.
Kieler Nachrichten:
Sie haben den Riss im Außenmeniskus von Jicha vor knapp dreieinhalb Monaten genäht. Warum haben Sie ihn nicht einfach entfernt?
Dr. Frank Pries:
Wenn es die Chance gibt, ihn zu retten, muss man sie im Interesse des Sportlers nutzen. Auch wenn die Folge keine dreiwöchige Pause sondern eine viermonatige ist. Ohne Außenmeniskus stellen sich bei einem Leistungssportler spätestens nach fünf Jahren Knorpelschäden im Knie ein.
Kieler Nachrichten:
Warum?
Dr. Frank Pries:
Der Meniskus ist wichtig als Schockabsorber für Stoß- und Drehbewegungen im Knie. Ohne diesen Puffer wird die Belastung nicht in die Gelenkkapsel abgeleitet, sondern trifft ungeschützt den Knorpel. Seine zweite wichtige Funktion ist die Verteilung der Gelenkflüssigkeit auf den Knorpel, die diesen gleitfähig und damit widerstandsfähig macht. Für beide Funktionen gilt, dass der Außenmeniskus wichtiger ist als der Innenmeniskus und ein Fehlen deshalb auch schwerer ins Gewicht fällt.
Kieler Nachrichten:
Früher war das Entfernen des Meniskus gängige Praxis. Fehlte die Erkenntnis, wie wichtig er für das Knie ist, oder fehlten die heute bekannten Techniken?
Dr. Frank Pries:
Bis vor 15 Jahren wurde ein Meniskusriss kaum genäht. Das lag in erster Linie daran, dass die endoskopischen Operationstechniken noch nicht so verbreitet waren. Das ist inzwischen anders. Ich arbeite beispielsweise mit endoskopisch anwendbaren Fadenankern, die sich hinter dem Meniskus festhängen. Durch Verknoten der Fäden wird dann der Riss verschlossen. Grundsätzlich ist der Meniskus ein Gewebe, das sich in drei Zonen aufteilt, die unterschiedlich gut durchblutet sind. Nähen macht nur im gut durchbluteten Bereich verletzter Menisken Sinn. So wie bei Filip Jicha. Aber auch dann liegt die Erfolgschance "nur" bei 70 Prozent.
Kieler Nachrichten:
Beispiel Jicha: Er pausiert nun seit drei Monaten. Wann wird er wieder das Niveau erreichen, das er vor seiner Verletzung hatte?
Dr. Frank Pries:
Nach seinem Comeback ungefähr weitere drei Monate. Die Faustregel lautet, dass die rein medizinische Reha-Zeit verdoppelt werden muss, bis der Verletzte wieder ganz der "Alte" ist. Der Athlet muss sehr behutsam an den Sport herangeführt werden, weil er nach einer Pause die Verletzungsgefahr deutlich höher ist. Das liegt daran, dass der Sportler dazu neigt, sich bei seiner Rückkehr falsch einzuschätzen. Es dauert aber, bis in der Spielsituation die Kontrollabläufe im Körper wieder zu Automatismen geworden sind. Ein Trainer wie Noka Serdarusic sieht dies dem Spieler an und setzt ihn entsprechend seiner Leistung im Training ein.
Kieler Nachrichten:
Sie kümmern sich seit knapp 15 Jahren um den THW und haben 50 Spieler operiert. Hat sich die Art der Verletzungen geändert?
Dr. Frank Pries:
Die Art nicht, aber die Häufigkeit. Das Spiel ist in den letzten Jahren viel schneller und härter geworden. Das liegt meiner Meinung nach auch daran, dass der Erfolgsdruck für die Spieler immer größer geworden ist. So sind jene Verletzungen häufiger geworden, die sich die Sportler bei unkontrollierbaren Tacklings zugezogen haben. So wie kürzlich Jicha oder Nikola Karabatic, die beim Wurf vom Gegner geschubst werden.
Kieler Nachrichten:
Haben sich auch die Spieler verändert?
Dr. Frank Pries:
Ja. Sie sind athletischer geworden. Wer dieser immensen Belastung nicht gewachsen ist, kommt gar nicht mehr in der absoluten Spitze an. Ein Karabatic hat sich auch deshalb durchgesetzt, weil er die richtige Athletik mitbringt. Im Handball findet eine immer härtere Selektion in den körperlichen Voraussetzungen statt. Die Klubs werden immer mehr darauf achten, Spieler mit der Konstitution von Karabatic bereits in der Jugend zu scouten.
Kieler Nachrichten:
Welche Aufgabe hat die medizinische Abteilung eines Klubs, um Spieler besser auf die Belastungen vorzubereiten?
Dr. Frank Pries:
Ergometer-Check oder einfach nur an den Gelenken wackeln, reichen bei der Sichtung nicht mehr aus. Wir gehen zu einem ganzheitlichen Screening über. Heißt, dass wir den Sportler von seinem Zahnstatus bis runter zum Sprunggelenk genau unter die Lupe nehmen. Daraus lässt sich auch ein individuelles Präventionsprogramm für jeden Einzelnen ableiten. Das gilt für Haltung, muskuläre Schwächen aber auch für die Psyche. Standard ist auch mittlerweile, dass Enzym- und Elektrolythaushalt regelmäßig überprüft werden, um eine gezieltere Regeneration zu ermöglichen.
Kieler Nachrichten:
Stichpunkt Regeneration: Die Nationalspieler haben neben dem Klub-Alltag in diesem Jahr noch zwei große Turniere zu bestreiten. Zu viel?
Dr. Frank Pries:
Ja. Gegen englische Wochen ist aus medizinischer Sicht nichts einzuwenden. So lange dazwischen drei Tage Ruhe liegen, die der Sportler auch im mentalen Bereich braucht, um das eine Spiel zu verarbeiten und sich auf das nächste einzustellen. Regeneration ist leichtes Auslaufen, reduziertes Training, physiotherapeutische Behandlung, aber auch, einmal faul mit einem Buch auf der Couch zu liegen. Regeneration ist auf keinen Fall, mit "dicken Waden" acht Stunden im Flugzeug oder im Bus zu sitzen, um zum nächsten Spiel zu reisen, was sich wiederum auch nicht vermeiden lässt.
Kieler Nachrichten:
Die Saison endete am 29. Dezember, und seit dem 3. Januar läuft bereits die Vorbereitung auf die EM in Norwegen. Ist das noch gesund?
Dr. Frank Pries:
Diesbezüglich gibt es keine Untersuchungen. Ich denke, ein durchtrainierter Handballer kann maximal zwei Jahre lang englische Wochen ohne einen längeren Urlaub durchhalten. Ein Turnier wie die EM mit bis zu acht Spielen in elf Tagen mitten in der Saison ist aus medizinischer Sicht nicht zu vertreten. Für die Regeneration wäre es wichtig, wenn die Spieler auch während der Saison zwei Wochen Urlaub hätten. Dafür wäre der Januar optimal. Wenn es schon ein großes Turnier pro Jahr sein muss, dann wäre es gesünder, es am Ende der Saison auszutragen, und dann die Spieler in die Sommerpause zu schicken. Diese Problematik betrifft zwar nur eine kleine Gruppe von Spielern aus der Bundesliga, dennoch sind sie zumeist die Leistungsträger der Klubs und verdienen gerade deshalb diese besondere Rücksicht und gesundheitlichen Schutz.
(Das Gespräch führte Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 14.01.2008)


(14.01.2008) Ihre Meinung im Fan-Forum? Zur Newsübersicht Zur Hauptseite