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24.05.2010 Mannschaft / Medien

"Handball-Magazin": Interview mit Ahlm: "Ich will verstehen"

THW Kiel und Liga trauern: Der alte Schwede Stefan Lövgren verlässt Deutschland. Dort hat er in elf Jahren einen bleibenden Eindruck hinterlassen

Wie funktioniert der THW Kiel? Was wird mit der WM 2011? Und wann bestimmt das Herz über den Kopf? All das sind Fragen, die der Schwede Marcus Ahlm dem "Handball-Magazin" beantwortet. Wir reichen das ausführliche Interview aus dem HM 05/2010 nach:
Aus dem "Handball-Magazin" 05/2010:

Er ist einer der weltbesten Kreisläufer: wuchtig, wendig, zuverlässig. Doch für seine Nationalmannschaft mag er nicht spielen - und das trotz der Weltmeisterschaft 2011 im eigenen Land. Der Schwede Marcus Ahlm ist nicht zimperlich, betont aber, mit 31 Jahren mehr auf seinen Körper achten zu müssen. Als Kapitän des THW Kiel ist er nicht nur Nachfolger des großen, noch immer omnipräsenten Stefan Lövgren, sondern auch der neue Hüter der Zebraherde. Mit dem Handball-Magazin sprach der (zurzeit pausierende) Chemiestudent am Tag nach dem Derby gegen die SG Flensburg-Handewitt in der Geschäftsstelle des Rekordmeisters über sich und den THW sowie Herzens- und Kopfsachen. Das 29:23 gegen den Nordrivalen hatte ihn übrigens nicht viel Kraft gekostet, denn wegen eines Muskelfaserrisses in der Wade saß er nur auf der Bank, das aber als sogenannter Mannschaftsverantwortlicher.

Handball-Magazin:
Fühlen Sie sich Ihren Mitspielern auch in solchen Momenten wie beim Spiel gegen Flensburg als Offizieller A verbunden?
Marcus Ahlm:
Das ist anders und war für mich das erste Mal, dort wie ein Offizieller mit Polohemd und Jeans zu sitzen. Ich habe schon oft verletzt auf der Bank gesessen, das aber immer im Trikot, denn ich bin eigentlich Spieler.
Handball-Magazin:
Nicht nur das. Sie sind auch der Kapitän des THW Kiel und damit ein Kronzeuge, um etwas über die Chemie dieser Mannschaft zu erzählen.
Marcus Ahlm:
Ja, die ist besonders. Als ich 2003 zum THW kam, war ich sehr überrascht über die Stimmung in der Mannschaft und wie man gegenseitig auf sich aufpasst. Die Halle, den Verein und die Leute aus dem Vorstand kannte ich schon von einigen Besuchen, denn ich hatte meinen Vertrag früh unterschrieben, blieb aber noch ein Jahr in Schweden.
Handball-Magazin:
Aber?
Marcus Ahlm:
Ich wusste nicht, wie es war, mit dieser Mannschaft zu spielen und zu trainieren, und hatte mich eher darauf vorbereitet, egoistischer werden zu müssen. Dass hier nicht nur jeder auf sich selbst schaut, hat mich angenehm überrascht.
Handball-Magazin:
Hatten Sie etwa befürchtet, in einem Haifischbecken zu landen und mit lauter Diven um Einsatzzeiten und das persönliche Fortkommen kämpfen zu müssen?
Marcus Ahlm:
Ja. Natürlich muss man auf dem Spielfeld egoistisch sein - aber nicht in der Kabine oder privat. Das musst du unterscheiden. Und ganz ohne Egoismus schafft es ein Sportler nicht aufs höchste Niveau. Das sagen wir auch den neuen Spielern. Man muss sich auf dem Spielfeld zeigen, aber außerhalb aufeinander aufpassen. Das ist wichtig.
Handball-Magazin:
Diese spezielle Atmosphäre zu konservieren, ist als Nachfolger des Kapitäns Stefan Lövgren.
Marcus Ahlm:
- vielleicht meine größte Aufgabe. Aber es geht auch darum, dass wir uns weiterentwickeln und trotzdem unser Gefühl als Mannschaft beibehalten. Wir sind bei einigen Sachen sehr konservativ.
Handball-Magazin:
Inwiefern?
Marcus Ahlm:
Wir halten an unseren alten Regeln fest und ändern diese nicht leichtfertig. Die sollen einfach jedem klar sein, und dann kommen auch keine Diskussionen auf.
Handball-Magazin:
Nach dem Pokal-Aus in Gummersbach hieß es, dass es um das Kieler Klima nicht mehr zum Besten bestellt sei und es gar Konflikte zwischen Familienvätern und kinderlosen Spielern gebe.
Marcus Ahlm:
Haben Sie uns gefragt?
Handball-Magazin:
So stand es zu lesen.
Marcus Ahlm:
Ich habe davon nichts gemerkt. Aber das ist doch immer so, wenn wir ein Spiel wie in Gummersbach verlieren. Hätten wir gewonnen, wäre das nie ein Thema gewesen. So hatten einige die Chance, etwas zu sagen. Woher das kommt? Keine Ahnung. Jedenfalls nicht von uns, sondern von außen. Und was andere sagen, ist mir nicht so wichtig.
Handball-Magazin:
Während also die Chemie innerhalb der Mannschaft stimmt, haben wir den Eindruck, dass es auf dem Spielfeld ohne prägende Figuren wie Nikola Karabatic und Stefan Lövgren oft ruckelt und die Elemente noch nicht richtig miteinander reagieren.
Marcus Ahlm:
Das ist logisch. Stefan wird nicht so schnell ersetzt. Er hat das Spiel für die anderen gespielt - das war seine Größe. Jetzt haben wir andere Mittelmänner, und das Spiel sieht mit deren Qualitäten anders aus: Wir machen auf der Mittelposition viel mehr Druck, brauchen aber noch Zeit, um unsere Rollen zu finden.
Handball-Magazin:
Beschreiben wir Sie richtig, wenn wir Sie eher als stehenden Kreisläufer sehen, der seine Position felsenfest hält?
Marcus Ahlm:
Das stimmt.
Handball-Magazin:
Früher gab es für Sie eine einfache Formel - stehen, warten, treffen. Das muss mit sprunghaften Typen wie Filip Jicha alles unübersichtlich geworden sein.
Marcus Ahlm:
Am Anfang der Saison gab es da mehr Probleme. In der Hinrunde haben wir mehr Punkte gesammelt, aber erst jetzt spielen wir besser und haben zu unserem System zurückgefunden. Und das wird sich auf Dauer auszahlen.
Handball-Magazin:
Sie waren Chemiestudent und sind bestens mit Formeln vertraut. Lässt sich für Sie auch das Handballspiel mit einfachen Formeln erklären?
Marcus Ahlm:
Ja, weil viel im Kopf entschieden wird. Dort stecken die entscheidenden Fähigkeiten eines Spielers. Natürlich ist ein guter Körper eine Voraussetzung. Der muss bereit sein, auszuführen, was der Kopf vorhat. Das Spiel ist zwar nicht wie Schach, aber die cleveren Spieler sind oft die Besten. Dass man für sich eine individuelle Taktik hat, ist sehr wichtig.
Handball-Magazin:
Sind Sie ein analytischer Mensch?
Marcus Ahlm:
Ich denke ziemlich viel nach. Mein eigenes Spiel analysiere ich ständig, um mich zu verbessern.
Handball-Magazin:
Spiegelt sich da auch Ihr Hang zur Naturwissenschaft wider?
Marcus Ahlm:
Vielleicht.
Handball-Magazin:
Warum entschieden Sie sich für ein Chemiestudium?
Marcus Ahlm:
Das ist ein allgemeines naturwissenschaftliches Interesse. Und ich will immer wissen und verstehen, wie Leute zusammenhängen und Sachen funktionieren. Was passiert zum Beispiel auf den Finanzmärkten, wenn Obama etwas sagt? Oder das Klima. Warum regnet es, warum schneit es? Das sind sehr einfache Fragen. Und warum wird Kupfer grün? Das Wie und Warum interessieren mich.
Handball-Magazin:
Sie sind bestens auf die Fragen Ihrer Kinder vorbereitet.
Marcus Ahlm:
(lacht) Ja, das ist noch nicht so weit. Unsere Tochter Ines ist dreieinhalb Jahre, unser Sohn Henry neun Monate. Ines stellt schon die ersten Fragen, aber die sind noch viel schwieriger. Warum ist das Auto rot und nicht blau? Aber ich freue mich darauf, wenn ich auf ihre Fragen bald besser antworten kann.
Handball-Magazin:
Lassen Sie in Ihrem Leben das Herz entscheiden, oder hat der analytische Marcus Ahlm immer den Vorrang?
Marcus Ahlm:
Manchmal werde ich sehr ungeduldig, und dann entscheidet eher das Herz. Da geht es oft um alltägliche Sachen wie Einkaufen. Oder wenn ich zum Beispiel die Idee bekomme, in einer Rehaphase unbedingt sofort eine bestimmte Übung probieren zu müssen, weil sie mir weiterhelfen könnte. Bei den großen Sachen bin ich eher langsam und denke nach.
Handball-Magazin:
Der Entschluss, den Vertrag mit dem THW Kiel bis 2012 zu verlängern - das war der Kopfmensch?
Marcus Ahlm:
Nein, das kann ich nicht sagen. Vielleicht auch. Aber es war sehr viel Herz dabei. Meiner Familie und mir geht es hier sehr gut. Nach so langer Zeit in einem Verein wie dem THW wird das zu einer Herzenssache. Das ist ein anderes Gefühl als vor sieben Jahren.
Handball-Magazin:
Sie und der THW haben also nicht spontan miteinander reagiert, sondern brauchten Zeit, um diese feste Verbindung aufzubauen?
Marcus Ahlm:
Nein, das hat schon sofort gepasst. Aber wie in jeder Beziehung wird die Bindung nach und nach stärker.
Handball-Magazin:
Wie ist Ihre Beziehung zu Schweden?
Marcus Ahlm:
Gut.
Handball-Magazin:
Auch eine Herzenssache?
Marcus Ahlm:
Natürlich. Das ist einfach ein gutes und schönes Land. Ziemlich familienfreundlich.
Handball-Magazin:
Wäre es nicht auch eine Herzenssache, 2011 wieder für die Nationalmannschaft zu spielen - gerade weil die Weltmeisterschaft in Schweden stattfindet?
Marcus Ahlm:
Ja, wäre es. Obwohl es nicht so einfach ist.
Handball-Magazin:
Was macht es denn schwierig?
Marcus Ahlm:
Ich schaffe es nicht mehr, immer durchzuspielen. Seit dem Bandscheibenvorfall 2008 habe ich deutlich mehr Probleme. Und ich merke, dass mir die Wochen im Januar, in denen ich ohne WM oder EM meine Fitness trainieren kann, sehr viel bringen für die Spiele in Kiel. Ich fühle mich besser und stabiler.
Handball-Magazin:
Gibt es überhaupt eine Chance, die WM spielen zu können, über die Sie mit den Nationaltrainern Ola Lindgren und Staffan Olsson gesprochen haben?
Marcus Ahlm:
Noch ist da nichts passiert.
Handball-Magazin:
Und was sagt Ihr Herz?
Marcus Ahlm:
Ich war bei der EM 2002 in Schweden. Obwohl ich in der Mannschaft eine sehr kleine Rolle spielte, war es ein großes Erlebnis.
Handball-Magazin:
Mal angenommen, Sie spielten die WM nicht - es drohte die Gefahr, dass einer der weltbesten Kreisläufer als ein in der Nationalmannschaft unvollendeter Spieler abtritt.
Marcus Ahlm:
So funktioniert das für mich nicht. Ich spiele nicht Handball, um später etwas vorzeigen zu können. Daran habe ich nie gedacht. Und ich werde nicht irgendwann meine Karriere analysieren. Das käme mir komisch vor.
Handball-Magazin:
Sondern?
Marcus Ahlm:
Ich will in den Wettbewerben, in denen wir gerade beschäftigt sind, gewinnen und mich jeden Tag verbessern. Darum geht es mir. Der Wille, mich zu verbessern, hat mich immer angetrieben. Das ist noch heute so. Ich bin stolz auf die Titel, die wir mit Kiel gewonnen haben, aber es geht immer ums nächste Spiel. Und da muss ich mich beweisen.
Handball-Magazin:
Mit Ihrem neuen Vertrag bis 2012 ist eine zeitliche Linie gezogen, hinter der ein neues Leben beginnen könnte. Als Offizieller auf der Bank zu sitzen - war das gegen Flensburg auch ein unfreiwilliger Probelauf für Ihre berufliche Zukunft?
Marcus Ahlm:
Nein. Ich könnte mir nicht vorstellen, gleich nach meiner aktiven Karriere ein Cheftrainer zu sein. Es wäre allerdings schön, wenn ich jungen Kreisläufern als Techniktrainer etwas von meinen Erfahrungen weitergeben könnte. Viel wird im Kopf entschieden, und man kann sich sehr verbessern, wenn man über das Spiel und verschiedene Situationen redet. Mit 31 habe ich einiges gehört - wenn ich davon einiges mit 19 gewusst hätte, wäre ich jetzt weiter.
Handball-Magazin:
Lösen Sie sich womöglich komplett vom Handball?
Marcus Ahlm:
Undenkbar ist das nicht. Ja, ich glaube, ich werde etwas Neues suchen. Mein Körper war eher für Handball als für Turnen oder Fußball geeignet. Als Kind probierte ich alles aus. Handball war der Sport, in dem ich Perspektive hatte. Ich kann nicht sagen, dass ich es am lustigsten fand. Nach und nach kamen andere Gefühle und die Frage: Wie weit kann ich kommen? Irgendwann hat mich nicht nur die Lust auf Handball, sondern auch diese Herausforderung getrieben.
Handball-Magazin:
Ihr Körper ist noch immer Ihr Kapital - und könnte es in den Augen weiblicher Fans auch weiter sein: Gab es da schon mal Angebote, als Unterwäschemodel zu arbeiten?
Marcus Ahlm:
(lacht) Nein, eigentlich nicht. Dazu habe ich auch zu viele Narben.
Handball-Magazin:
Haben Sie einen Traum, wie Ihr Leben in zehn Jahren aussehen soll?
Marcus Ahlm:
Natürlich mit Gesundheit für die Familie in einem Umfeld, in dem wir uns wohlfühlen. Darum geht es.
Handball-Magazin:
Und Handball muss darin nicht zwingend vorkommen?
Marcus Ahlm:
Das ist ja nicht schwarz und weiß. Handball wird komischerweise ein immer größerer Teil meines Lebens. Bis 20 habe ich mich trotz des umfangreichen Trainings vor allem für die Schule interessiert - das war die Nummer eins. Aber als ich dann erstmals zur Nationalmannschaft eingeladen wurde, war das ein Knackpunkt. Da ist das Pendel zum Handball ausgeschlagen. Das Studium war zwischenzeitlich eine große Sache. Jetzt habe ich meine Familie und Handball. Damit fühle ich mich wohl - ich bin ein glücklicher Mensch.
(Aus dem "Handball-Magazin" 05/2010)


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