16.05.2008 | Mannschaft / Bundesliga |
Der THW, gerade entthronter Champions League-Sieger, ist wieder aufgestanden. Aller Müdigkeit in den Knochen und Leere im Kopf zum Trotz. Motivieren kann offenkundig wirklich kein Trainer besser als Serdarusic. Sich motivieren können seine "Jungs" ebenfalls unvergleichlich. Ihr Lehrmeister pflanzt es ihnen ein. Sie können nicht anders. Motivationsprobleme oder Überheblichkeit haben in den letzten Jahren so gut wie nie zu Kieler Niederlagen geführt. Das macht den Unterschied aus zur personell kaum schlechter aufgestellten nationalen Konkurrenz.
Sieben Punkte gab der THW in dieser Saison bislang ab. Gegen Flensburg, Hamburg, Nordhorn. Einen einzigen (im Hexenkessel Hamburgs) büßte Kiel in der Rückrunde ein - macht 31:1 Zähler und weitere Erfolge im Pokal, inkl. Final Four. Punktverluste gegen Teams ab Platz sechs? Null! Das ist es, was den THW Kiel so stark macht. Gegen die Mitkonkurrenten setzt es schon mal eine Niederlage. Doch diese sind rar. Noch dazu finden sie meist in der Vorrunde statt, sind daher korrigierbar. Blamagen? Patzer? Aussetzer? Fehlanzeige. Die Verfolger hofften umsonst. Gewonnen wurde die Meisterschaft vermutlich schon im April in Berlin, als der THW sich vom zeitweise vorgeführten, klaren Verlierer noch in einen unglaublichen Last-Second-Sieger verwandelte. Wieder kein Aussetzer!
Zum Vergleich: Flensburg ließ u.a. Punkte liegen gegen Essen, Göppingen (drei!) und in Magdeburg sowie am Mittwoch Abend bei den Rhein Neckar-Löwen. Hamburg vergeudete - vor allem auch zu Hause - Meisterpunkte gegen Lemgo, Wetzlar (!), Göppingen, die Rhein-Neckar-Löwen (drei!). Das lässt den THW einsam an der Spitze verweilen, ganz nach dem Motto: "Untereinander nehmen sich die großen Vier oder Fünf recht gleichmäßig Punkte ab, dahinter herrscht aber Disziplinzwang und Erfolgspflicht." Die Konkurrenz aber kam beidem nicht ausreichend nach, konnte die Spannung nicht aufrecht erhalten in den Alltagsspielen. Disziplin und Erfolgspflicht aber hat der THW verinnerlicht.
Nach dem Schock des Ciudad-Rückspiels war das Team rund um seinen seinerseits arg geknickten "Leader" Stefan Lövgren reanimiert worden. Trotz einiger Probleme und Fragen, die der Sturz von Europas Thron zu Tage förderte bzw. hinterließ, hatte Kiel sich aufs Neue eingeschworen und schon nach 30 Minuten alle Fragen beantwortet (21:14 Pausenführung). Sogar der zuletzt meist gehemmte, sich regelrecht versteckende Kim Andersson traf wieder. Die Gemeinschaft um ihn herum hat ihn offenkundig nicht fallen lassen. Und er revanchierte sich mit einer Leistungssteigerung. Alle trugen sich diesmal in die Torschützenliste ein, von den Keepern abgesehen. Das Kollektiv machte den Titel klar - das passte zum gegebenen Anlass. Dominik Klein nannte dies "die Charakterstärke dieses Teams". Auch Stefan Lövgren konnte sich wieder freuen. Mit Titelfeiern kennt er sich zudem ja aus...
Aber es war eben nicht einfach nur standesgemäß, nicht nur Routine oder Business as usual - angesichts der tief sitzenden Enttäuschung vom Sonntag. "Dieser Sieg war nicht selbstverständlich nach der Champions-League-Niederlage, aber die Jungs haben sich zusammengerauft. Sie haben sich eingeschworen auf die Deutsche Meisterschaft, sie wollten es selbst schaffen, dann kann man sich mehr freuen", erklärte Serdarusic, um dessen Verbleib über die Vertragsdauer bis 2009 etliche Aufregung gab - und gibt. Serdarusic selbst wirkte total aufgeräumt - und ehrlich: "Ich weiß nicht wie ich die Jungs innerhalb von nur drei Tagen aus dem "Tal der Tränen" heraus geholt habe - ich weiß nicht einmal, ob ich es gemacht habe. Ich hatte Zweifel, denn vor dem Spiel waren die Gesichter alles andere als fröhlich. Letztendlich bin ich froh." Die Freudenszenen nach dem Kantersieg waren aus Kieler (Fan-)Sicht gewiss eine Wohltat, das Resultat aber zu deutlich und die Nachwehen vom Sonntag noch nicht abgeklungen genug, als dass man ausschweifenden Jubel hätte erwarten dürfen.
Wenn die Samstags-Meisterparty gefeiert ist, die Kieler Verantwortlichen die jüngst aufgetretenen Fragen (um Noka Serdarusic, Kim Andersson und noch einige mehr) beantwortet haben und die Analyse von (jüngster) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sie beschäftigen wird, sollte man sich vergegenwärtigen: In zwei Jahren hat der THW, die Briefkopftitel wie Supercup und Vereins-EM nicht eingerechnet, von sechs möglichen großen Titel fünf (!) geholt - und um den sechsten bis im Finale gekämpft. Eine Superbilanz, freilich auch eine, die kein Garant für weitere Titel-Abonnements ist, aber eine Ausbeute, auf die alle Beteiligten stolz sein können. Müssten. Noch einmal der Coach: "Ob die Freude über die Meisterschaft oder der Frust über die Champions-League-Niederlage überwiegt? Ich kann nur sagen: Wir haben den Pokal, sind Deutscher Meister und standen im CL-Finale. Unser Verein ist 105 Jahre alt und wir haben dies zum dritten Mal geschafft. Ich habe meine Jungs die ganze Saison über nicht viel gelobt, aber jetzt bin ich stolz auf die Jungs. Andere müssen 50 bis 70 Jahre leben, um so etwas zu schaffen."
Der vermeintliche "FC Bayern" des Handballs hat in seiner Branche längst einen Status erreicht, den die Münchner Fußball-High-Society zur Zeit nicht genießt - bei allen Parallelen. Wer die Europapokalauftritte Kiels mit denen der mit Abstand besten deutschen Fußballmannschaft vergleicht, wer die Konstanz der beiden Branchenführer national und international gegenüberstellt, ist geneigt, zu fragen - und die Antwort gleich mitzuliefern: Kiel der FC Bayern des Handballs? Mitnichten! Der THW ist auf seinem Gebiet zuletzt dominanter, erfolgreicher und spannender gewesen.
Die Liga also muss weiter auf den Machtwechsel warten. Und auch auf Europa-Ebene wähnt selbst der neue Champions-Coach, Talant Dushebajew, den THW trotz des Triumphes der Weltauswahl namens Ciudad in Kiel noch immer auf Augenhöhe mit seinem Starensemble. Mindestens. Die Hoffnung der Herausforderer: Personelle Veränderungen beim THW. Im Rückraum womöglich. Auf der Bank womöglich - über kurz oder lang unweigerlich. "In Ruhe" wolle man das Trainer-Thema besprechen, hatte Uwe Schwenker zu den Äußerungen seines Erfolgscoaches gesagt. Zunächst zähle die Deutsche Meisterschaft.
Die ist nun eingefahren, das Double unter Dach und Fach. Zwar hat Serdarusic nur sein faktisches Vertragsende für eine Antwort in einem Interview bemüht, aber die Eigendynamik solcher Zwischentöne war immens, die Reaktionen prompt und die gegengesteuerten News, Kiels Trainer könne oder solle noch länger als 2009 bleiben, ließen ebenfalls nicht lange auf sich warten.
Manchen Klubinsider dürften Serdarusics Gedanken an Abschied, eventuell dessen Wunsch, einen Lebensabschnitt relativ zeitnah zu beenden, nicht wirklich überrascht haben, wenn sie denn nur genau hin- bzw. ihm zugehört haben in der Vergangenheit. Oder hätten. Alles scheint derzeit jedenfalls möglich. Feststeht nur: Uwe Schwenker ist das Siegel dieses Klubs, um beim Vergleich mit den Bayern zu bleiben gewiss so eine Art Uli Hoeneß des Handballs. Aber: Verkörpert wird der Verein durch Serdarusic. Von ihm hat dieser THW seine Aura. Die viel zitierte Kieler Siegermentalität - sie entwickelte sich sukzessive in seiner Ära.
Väter des Erfolges hat Kiel mehrere. Die diversen Mannschaften und Spielergenerationen indes hatten und haben nur einen (Zieh-)Vater: Ihren kratzbürstigen, selten lobenden, polarisierenden, aber völlig auf das Team fixierten Coach. Ihr Fixpunkt: Der "seine Jungs" auf bisweilen etwas masochistische Weise liebende und gleichzeitig mit harter Hand führende Trainer.
Immerhin: Vor der Parade gegen Wetzlar hat Serdarusics Truppe sportlich für klare Verhältnisse gesorgt. Und in Stuttgart saß auch Uwe Schwenker wieder mit auf der Bank - als bedeute dies eine Art Schulterschluss zwischen Manager, sprich Verein, und Trainer. Schnell wusste das Duo: Diese Saison ist gelaufen. Doch vor allem auch diese Zwei wissen: Spannend bleibt es vorerst allemal.
(von Frank Schneller, © 2008 www.handball-world.com)
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