Was für ein Wahnsinns-Spiel! In der 37. Minute der Heimpartie
der "Zebras" gegen den VfL Gummersbach hätte am Mittwochabend
wohl niemand der 10.285 Fans in der Sparkassen-Arena noch an
einen Sieg der Kieler gegen den Altmeister geglaubt. Der
überragende Florian von Gruchalla (9 Tore) hatte per Heber
zum 23:15 für die Gäste getroffen. Doch in den folgenden Minuten
wurde der Handball-Tempel zum Tollhaus: Angetrieben von den Fans
und einem in der zweiten Hälfte bärenstarken Filip Jicha
drehten die "Zebras" dieses bereits verloren geglaubte Spiel.
Zehn Sekunden vor dem Ende markierte der beste Kieler Torschütze
Marko Vujin (7/3) den 31:30 (14:20)-Siegtreffer
vom Siebenmeterstrich, der anschließende Angriff der Gäste endete
in den Armen der THW-Abwehr. Der Rest war Jubel.
THW-Trainer Alfred Gislason musste
im Spiel gegen den VfL Gummersbach den verletzten
Rasmus Lauge ersetzen, da zudem
Johan Sjöstrand mit Kniebeschwerden
zu kämpfen hatte, begann Andreas Palicka
im Tor der Kieler. Doch nach fünf Minuten musste
Sjöstrand doch zwischen die Pfosten:
Palicka hatte einen Ball ins Gesicht
bekommen und musste mit blutender Nase das Feld räumen. Zu diesem
Zeitpunkt war allerdings bereits absehbar, dass es gegen den VfL
ein schwerer Gang werden würde. Auch, weil der THW-Angriff
Fehler in Reihe produzierte. Die Gäste schickten so ein ums
andere Mal von Gruchalla auf die Reise, der die Gegenstöße
nahezu traumwandlerisch sicher verwandelte.
Nach einer ausgeglichenen Anfangsphase entriss der VfL dem THW
das Heft des Handelns in dessen eigener Arena. Nach von Gruchallas
fünftem Gegenstoßtor zum 7:4 für die Gäste zog
Gislason erstmals den grünen Auszeit-Karton.
Nicht einmal zehn Minuten waren da gespielt - und die "Zebras"
wirkten müde und unaufmerksam. Gislason
brachte - früher als erhofft - Aron Palmarsson.
Der Rekonvaleszent sollte nach seiner Knie-Operation Anfang Juni
eigentlich ein bedächtiges Comeback feiern, doch angesichts der
Kieler Unordnung im Angriff musste der Isländer früh ran.
Palmarsson führte sich wenige Sekunden
später mit seinem Tor zum 5:8 gut ein, und wenig später verkürzte
Rene Toft Hansen, der 60 Minuten lang
von der gegnerischen Abwehr "beackert" und dabei kaum geschützt
wurde, zum 7:9. Doch dichter ließen die Gäste die "Zebras" zunächst
nicht heran.
Sechs-Tore-Rückstand zur Pause
Gislason reagierte erneut und brachte
Christian Zeitz für Vujin.
Zeitz traf nach 23 Minuten per Gegenstoß zum
11:12 und bediente kurz darauf Toft Hansen
zum 12:13, doch dann agierte der Linkshänder ebenso unglücklich wie
seine Nebenleute: Die Folge waren vier VfL-Treffer binnen zweieinhalb
Minuten, die Gäste enteilten auf 17:12 und erhöhten mit einem feinen
Kempatrick des Sprungwunders Raul Santos wenig später sogar auf 19:13.
Der Sechs-Tore-Vorsprung hielt bis zum Pausenpfiff, weil der ebenfalls
gute Barna Putics ein Geschoss ins Netz drosch.
Früh kamen die Kieler aus der Kabine zurück. Kapitän
Filip Jicha versammelte seine Mannen kurz
vor dem Wiederanpfiff um sich und gab die Marschrichtung vor: Aus
einer sicheren Abwehr wollten die Kieler mit Tempo nach vorn spielen
und so den Rückstand drehen. Dafür schickte Gislason
die pfeilschnellen Gudjon Valur Sigurdsson und
Christian Sprenger aufs Feld, im Tor vertraute
er wieder auf Andreas Palicka. Eine gute
Entscheidung, denn der Schwede führte sich mit einigen Paraden gut ein.
Doch seine Vorderleute konnten daraus zunächst kein Kapital schlagen:
Sprenger setzte einen Kempatrick gegen die
Latte, Sigurdsson scheiterte mit einem
Gegenstoß an Lichtlein, und Fredrik Larsson
erhöhte für die Gäste. Diese legten nach: Erst fischte Lichtlein erneut
einen Sigurdsson-Wurf aus dem Eck, dann traf
Santos, und als Niclas Ekberg mit einem
Siebenmeter an Ristovski scheiterte, nutzte von Gruchalla ein weiteres
Loch in der Kieler Abwehr mit einem frechen Heber zum 23:15 (37.).
Acht Tore Rückstand, nur noch 23 Minuten zu spielen: Die Situation
schien aussichtslos, und doch glaubten die THW-Fans auf den Rängen
an eine Aufholjagd. Sie feuerten die "Zebras" an, feierten jede
gelungene Aktion und ärgerten sich über einige der zahlreichen
strittigen Situationen. Als Marko Vujin
mit einem Doppelpack verkürzte und nach einer Palicka-Parade
Patrick Wiencek den Gegenstoß zum 18:23
versenkte, tobten die Fans auf den Rängen. Hallensprecher
Thomas Lorenzen sah die "Zebras wieder
im Spiel" - und sorgte so für zusätzliche Stimmung unter dem Arena-Dach.
Angeheizt wurde der Hexenkessel auch durch Mark Bult, der nach
seinem 25:19 Rene Toft Hansen ungeahndet
umriss und so die schnelle Mitte verhinderte. Danach spielten die
"Zebras" wie aufgedreht: Filip Jicha
machte nach jedem Ballgewinn ein unglaubliches Tempo und führte
seine Farben nun mit großer Dynamik ins Feld. Vujin
- erneut stark - traf zum 20:25, Sigurdsson
versenkte einen Gegenstoß zum 21:25, und Jicha
bediente Toft Hansen mustergültig zum 22:25
- VfL-Trainer Emir Kurtagic sah den THW-Express an Fahrt aufnehmen
und nahm eine Auszeit (44.).
Jicha dreht auf
Es folgte eine der wohl intensivsten Schluss-Viertelstunden der
vergangenen Jahre. Denn obwohl Jicha
sich nun zu ganz großer Form aufschwang, als Torschütze, Antreiber
und Vorbereiter glänzte, kam der THW nicht heran. Die Kieler Abwehr
agierte nun bissiger und beweglicher, das Team kämpfte, und von den
Rängen gab es Rückenwind: Trotzdem fanden die Gäste immer wieder
eine Lücke - und profitierten auch weiterhin von der Kieler
Abschlussschwäche. Doch als Jicha, der
seine sechs Tore zwischen der 46. und 60. Minute erzielte, zum
25:26 und wenig später zum 26:27 (51.) verkürzte, glaubten Spieler
und die Fans wieder an eine sensationelle Aufholjagd. Doch die
Gäste blieben cool, erhöhten durch Bult und profitierten von
Ristovski-Paraden.
THW gleicht aus
Marko Vujin bejubelt den
Treffer zum 31:30 und blickt dabei auf die Hallenuhr.
Doch gegen einen Filip Jicha, der
seine Kollegen derart mit- und das Spiel an sich riss, war an
diesem Abend kein Kraut gewachsen: Der Tscheche verkürzte mit
seinem dritten Tor in Folge auf 27:29 und ließ kurz darauf nach
zweiter Welle das 28:29 folgen. Als Jicha
dann 20 Sekunden später im Eins-gegen-Eins den Ausgleich erzielte,
riss es die Fans von den Sitzen. Drei Minuten vor dem Ende hatte
der THW Kiel einen Acht-Tore-Rückstand aufgeholt, in zwanzig
Minuten aus einem 15:23 mit einem 14:6-Lauf ein 29:29 gemacht
- Wahnsinn.
Vujin markiert Siegtreffer
Doch dieser war noch längst nicht beendet: Kopco traf für den
VfL, Sigurdsson antwortete nach
Schneller Mitte. Da waren noch 2:20 Minuten zu spielen. Der
THW kam wieder in Ballbesitz, Palmarsson
traf und wurde zurückgepfiffen. Jicha traf
- und wurde zurückgepfiffen - allerdings zugunsten eines Siebenmeters.
13 Sekunden Restspielzeit standen bei 30:30 auf dem Videowürfel,
und Marko Vujin übernahm Verantwortung:
Er drosch das Leder zum 31:30 in die Maschen, Kurtagic reagierte
sofort mit der Auszeit. Der VfL-Trainer brachte einen siebten
Feldspieler für die verbliebenen zehn Sekunden, doch der
Angriffsversuch der Gummersbacher blieb in der vielarmigen
Kieler Abwehr hängen. Der Rest war Jubel. Nach dem optimalen
8:0-Start dürfen sich die Kieler nun aber nicht lange ausruhen:
Am Sonnabend fordert Aufsteiger ThSV Eisenach die "Zebras" zum
Duell auf. Anwurf in der hitzigen Atmosphäre der engen
Werner-Aßmann-Halle ist um 19.00 Uhr.
Wir hatten heute ziemlich viel Glück. Die erste Halbzeit haben wir
nicht besonders gut gespielt, haben zu wenig gekämpft und uns schlecht
bewegt. Vorne haben wir zu statisch gespielt und zu viele Fehler
produziert, so dass der VfL in den ersten 30 Minuten allein sieben
Gegenstoßtore erzielen konnte.
Nach 35 Minuten dann hat meine Mannschaft einen Riesenkampf
gestartet. Ihr gebührt für diese Einstellung mein Respekt. Am Ende
sind wir glücklich als Sieger vom Platz gegangen. Allerdings musste
ich dafür aufgrund der engen Personaldecke ein viel zu hohes Risiko
eingehen. Geplant war, dass Aron heute
zehn, vielleicht 15 Minuten spielt. Er hat dann ein sehr gutes
Spiel gemacht.
VfL-Trainer Emir Kurtagic:
Als fairer Sportsmann bleibt mir heute nur, dem THW Kiel zu
gratulieren. Ich bin natürlich sehr enttäuscht. Wir haben ein gutes
Spiel gemacht und das umgesetzt, was wir uns vorgenommen hatten. Die
erste Hälfte war vielleicht die beste Halbzeit der vergangenen zwei
Jahre. Wir wussten, dass der Druck der Kieler in der zweiten Halbzeit
groß sein würde, dann kamen auch die Zuschauer, was den Ausgang des
Spiels beeinflusst haben könnte. Der THW ist dann zu vielen leichten
Toren gekommen. Am Ende wurden wir überrannt. Wir fahren jetzt zum
zweiten Mal nach dem Lemgo-Spiel mit leeren Händen nach Hause, obwohl
wir die bessere Mannschaft waren. Das schmerzt.
Ich weiß nicht, warum wir in der ersten Halbzeit so schlecht gespielt
haben. Wir waren alle viel zu passiv, die Führung der Gummersbacher
war verdient. Nach der Pause haben wir dann endlich Tempo gemacht.
Mir persönlich geht es überragend.
Das war ein krankes Spiel, unsere Leistung in der ersten Halbzeit
grottenschlecht, da war keiner von uns auf der Platte. Nach der
Pause waren wir zwar immer noch nicht gut, aber wir haben gekämpft.
VfL-Torhüter Borko Ristovski gegenüber den KN:
Wir haben gut gespielt, aber das hilft nichts. Ich spiele
lieber schlecht und gewinne.
Kiel. Das Aufeinandertreffen der beiden Bundesliga-Dinos,
der beiden einzigen Mannschaften, die von Anbeginn in der
höchsten deutschen Handball-Spielklasse vertreten sind, hat
sich gestern Abend zu einem hochdramatischen Klassiker
entwickelt, an dessen Ende sich der THW knapp mit 31:30
(14:20) durchsetzen konnte. Im Duell des Rekordmeisters
gegen den zwölfmaligen Titelträger hielt der VfL Gummersbach
lange die Siegkarten in der Hand, bevor der THW angetrieben
durch seinen Kapitän Filip Jicha
das Spiel doch noch drehte und zehn Sekunden vor Abpfiff
den Siegtreffer erzielte.
Mit dem Anpfiff zeigte sich, wie abhängig der THW von der
Spieleröffnung durch Rasmus Lauge
und Aron Palmarsson ist. Nach dem
Ausfall von Lauge musste sich der
gerade von seiner Knie-OP genesene Palmarsson
stärker in die Schlacht werfen, als es den Verantwortlichen des THW
lieb sein konnte.
Bereits nach 10:13 gespielten Minuten war er wieder da, nach
11:11 Minuten explodierte kurzfristig die Halle: "TNT" hallte
als Erkennungsmusik durch die Kieler Arena.
Palmarsson hatte sich mit seinem
ersten Saisontreffer auf dem Parkett zurückgemeldet. Es war ein
wichtiges Zeichen des Isländers an seine Mannschaft. Doch es
schien nur von kurzer Dauer zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt
hatte der THW seine Linie gesucht, sich schwer mit der
Spieleröffnung getan. Filip Jicha
hatte zunächst die Mittelposition übernommen,
Wael Jallouz stand ihm auf Halblinks
zur Seite. Doch der Tunesier erwies sich als Unsicherheitsfaktor,
agierte mit zittriger Hand und schlug häufig einen Haken zu
viel. Das Spiel war so fast ausschließlich auf
Rene Toft Hansen am Kreis angelegt,
der aber unter ständiger Dauerbewachung stand. Die Gummersbacher
Mark Bult und Michal Kopco zogen und zerrten gemeinschaftlich an
dem Dänen. Abgefangene Bälle nutzte vor allem der schnelle
Rechtsaußen Florian von Gruchalla. Siebenmal war er in der
ersten Hälfte erfolgreich.
Der Wiederbeginn startete turbulent. Ein schöner Kempa-Versuch
von Palmarsson auf Außen
Christian Sprenger hätte ein Tor
verdient gehabt, doch der Ball landete an der Latte.
Andreas Palicka parierte im THW-Tor
gleich vier Großchancen. Aber auf der anderen Seite kam
plötzlich auch Nationaltorwart Carsten Lichtlein in Fahrt, fing
die Bälle der frei vor ihm auftauchenden
Toft Hansen und
Gudjon Valur Sigurdsson ab. Der VfL
hatte so den besseren Start nach dem Seitenwechsel, zog nach
klarer Halbzeitführung auf 23:15 (36.) davon.
Nur mühsam arbeitete sich der THW wieder heran. Ab der 40.
Minute stellte THW-Trainer Alfred Gislason
auf offensive Abwehr um, beorderte Jallouz
als Speerspitze auf das Parkett. Die Maßnahme fruchtete. Die
Gummersbacher begleitet von einem gellenden Pfeifkonzert, nachdem
ein siebenmeterreifes Foul an Toft Hansen
nicht geahndet worden war, gerieten bei ihren Angriffen zunehmend
unter Zeitdruck. Und angeführt von einem explosiven Kapitän
Jicha arbeiteten sich die Kieler heran.
Ab der 46. Minute übernahm der Tscheche ein ums andere Mal
Verantwortung, wuchtete die Bälle an Borko Ristovski, der Lichtlein
nach einem Kopftreffer ersetzt hatte, ins Tor. Beim 29:29 stellte
Jicha den ersten Ausgleich nach dem 4:4
(7.) her, und in den Schlusssekunden schien er auch den Siegtreffer
erzielt zu haben. Doch die Schiedsrichter, die mit ihren Entscheidungen
für wenig Freude beim Kieler Publikum gesorgt hatten, pfiffen den
Wurf ab, entschieden aber auf Siebenmeter.
Marko Vujin trat an den Punkt und meisterte
die große Last. "Der Trainer hat mich gefragt, und ich war bereit", so
der Serbe, der mit seinem Tor die Arena in ein Tollhaus verwandelte,
da der letzte verzweifelte Versuch des VfL an der Kieler Abwehr
abprallte.
(von Ralf Abratis, Wolf Paarmann und Marie Reitzenstein, aus den Kieler Nachrichten vom 12.09.2013)