Von Dr. Oliver Schulz:
Für den THW Kiel bedeutet die Verpflichtung
Daniel Narcisses
ein weiteres Juwel in seinem ohnehin mit Klassespielern
gespickten Kader. Die französische Liga LNH konnte
zwar die Rückkehr
Karabatics
vom deutschen Rekordmeister auf heimisches Terrain vermelden,
verliert aber mit dem Sprungwunder nur wenig später
einen ähnlichen Hochkaräter ausgerechnet an die
Kieler. Nach der Aufrüstung Montpelliers dürfte
der Kampf um die Meisterschaft auf der anderen
Rheinseite deutlich an Brisanz verlieren,
hat doch der ärgste Konkurrent Chambery nicht nur
einfach sein Aushängeschild verloren.
Bei den Savoyern
geht mit dem überraschenden Abschied
Narcisses
vielmehr endgültig eine Ära zu Ende. Vor gut zwei Jahren noch hoch
angesetzte Ziele wurden nicht erreicht, und so stehen die
Gelb-Schwarzen ohne große Namen vor einem Neubeginn.
Neben Karabatics
Rückkehr nach Südfrankreich dürfte - so vermutet die Savoyer Tageszeitung Le Dauphine Libere - auch
der Poker um Narcisse zu den finanziell
umfangreichsten Transfers in der Geschichte der LNH
zählen. Über den plötzlichen Geldsegen in seiner Kasse
hätte sich der Alpenklub eigentlich freuen können,
wäre der Verkauf seiner noch drei Jahre vertraglich
gebundenen Gallionsfigur schon länger geplant
und damit absehbar gewesen. Die kurzfristige Bitte Narcisses
an Präsident Alain Poncet, Savoyen vorzeitig den Rücken kehren zu
wollen, trifft den Vizemeister allerdings mitten ins
schwarz-gelbe Herz, verliert er doch seinen Kapitän,
gefährlichen Torschützen, Denker und Lenker praktisch
über Nacht.
Trauriger Rekord in Chambery
So sprach das französische Portal sport24.com denn auch
von einem traurigen Rekord. In einer von der Savoyer
Tageszeitung Le Dauphine Libere durchgeführten Umfrage unter
Führungskräften von Vereinen anderer Sportarten,
die in der Region Savoyen beheimatet sind, rief
die rasante Entwicklung der Ablösesummen im Handball eher Besorgnis hervor.
Im ersten Jahr ohne Neuzugänge erwarte er eine der härtesten
Spielzeiten seit seinem Amtsantritt (1996), hatte Trainer
Philippe Gardent das Blatt noch kurz vor Bekanntwerden
der Wechselabsichten seines Stars wissen lassen.
Einige Tage danach erörterte er derselben Zeitung,
auch ohne den Abgang hätte der Meister von 2001 und
Ligapokalsieger von 2002 keine neuen Leute verpflichtet.
Jetzt werde es natürlich äußerst schwer, gerade im
Hinblick auf die Zusatzbelastung durch die Königsklasse.
Nach dem Rückzug seines in der Immobilienbranche tätigen
Hauptsponsors Michel Simond und einem damit verbundenen
angeblichen Defizit von 300.000 Euro ließ der Verein
vor wenigen Wochen bereits seinen slowenischen
Halbrechten Jure Natek zum Meister seines Heimatlandes,
Gorenje Velenje, ziehen, ohne adäquaten Ersatz zu finden.
Vielmehr bezeichnete Präsident Alain Poncet noch Ende
Juli im Scherz die drei Langzeitverletzten Roine, Paty und Joli,
die in der abgelaufenen Saison nur phasenweise zur
Verfügung standen, quasi als Neuzugänge - die beiden
letztgenannten sind immerhin Linkshänder. Die Lücke zum
sportlich wie finanziell ohnehin übermächtigen Abonnementsmeister
Montpellier dürfte sich nach dessen heftiger Aufrüstung
noch weiter geöffnet haben.
Verständnis des Trainers
Gegenüber Dauphine Libere drückte Gardent sein Verständnis für
Narcisses Wunsch aus, zukünftig mit
dem THW auf Titelhatz zu gehen. Der sei verständlich
und legitim. Mit fast 30 Jahren und hungrig auf
Erfolge habe
Narcisse einer der ganz Großen
in Europa ein finanziellesAngebot unterbreitet, das
dieser nicht habe ablehnen können. Nachdem Chambery dem Spieler
einst ein ambitioniertes Projekt unterbreitet habe,
das durch den Rückzug des Sponsors aber gebremst
worden sei, habe
Narcisse
die komplizierte Situation des Klubs verstanden und darauf reagiert.
Sportlich und menschlich sei der Abgang eines solch außerordentlichen
Spielers ein herber Verlust bis hin zu einem Schock.
Schließlich habe der Verein all sein Streben um ihn
herum aufgebaut. Jetzt müsse alles neu gestaltet
werden, und dafür bleibe nicht allzu viel Zeit.
Das Problem bestehe darin, dass neue Systeme sich
nun einmal nicht über Nacht einspielten.
Verbandspräsident: Harter Schlag für die gesamte Liga
Präsident Alain Smadja bedauerte den Wechsel des Rückraumstars
auf der Homepage des Ligaverbandes LNH zutiefst und sprach
von einem harten Schlag für das gesamte Klassement.
In jedem Entwicklungsprozess gebe es Phasen des
Fortschritts und solche des Stillstands. Die in Kürze beginnende
Spielzeit habe nach der Rückkehr
Karabatics
eigentlich Potential für einen gehörigen Schub nach vorne
in sich getragen. Trotz der Ankunft mehrerer Ausländer
in der LNH werde
Narcisses
Weggang das Handballfieber ordentlich drosseln, sei dieser doch
einer der drei, vier herausragenden Spieler der Liga
gewesen. Seine späte Wechselabsicht gegen Ende der Vorbereitung
bzw. des Transferfensters habe zudem auf dem Markt zu einer gewissen Unruhe geführt.
Das Ende einer Ära
Nach dem Abgang früherer Weltstars vom Schlage eines Stephane Stoecklin,
Marc Wiltberger oder der Gille-Brüder hatte Chambery - gestützt auf
das ruhmreiche Duo Richardson/
Narcisse - vor gut zwei
Jahren neu Anlauf genommen und einen großkalibrigen
Angriff auf die nationale Meisterschaft und die
Königsklasse geplant. Nach "Jacks" Karriereende und der Landung von
"Air France" in Kiel ist in Savoyen vor
wenigen Tagen eine Handball-Ära zu Ende gegangen. Chambery Savoie
Handball, dessen Internetpräsenz mit "Der Verein von
Daniel Narcisse"
überschrieben ist, muss nach dem Aufstieg in die erste Liga (1994)
und anschließender mehr als zehnjähriger Präsenz an der
nationalen Spitze plötzlich eine ganz neue Seite in seiner Chronik aufschlagen.
Blick in eine ungewisse Zukunft
Trainer Gardent gab gegenüber "Le Dauphine Libere" die Parole aus,
nun trotz der wenigen verbleibenden Zeit nicht in Panik
zu verfallen, sondern in Ruhe zu überlegen, um dann neu
Schwung zu holen. Mit Chambery sei dennoch zu rechnen. Es habe
es ein Leben vor
Narcisse gegeben, und es werde
auch eines nach ihm geben. Auf dem Feld müsse nun der
tschechische Mittelmann Karel Nocar die Zügel in die
Hand nehmen, ließ der Coach durchblicken und appellierte
gleichzeitig an den Mannschaftsgeist. Die Truppe
müsse nun noch enger zusammenwachsen und ihre Kräfte bündeln.
Dennoch werde er jetzt nach einer Verstärkung für die
in Bälde beginnende Spielzeit Ausschau halten, ohne
allerdings etwas zu überstürzen. Am Rande des bereits ohne
Narcisse bestrittenen Eurotournois
in Straßburg stieß Benjamin, jüngster der drei Gille-Brüder,
gegenüber dem Portal hand7.fr in dasselbe Horn: zukünftig
gelte es, gestützt auf eine sichere Abwehr auch ohne
den Star zu wachsen und sich weiter zu entwickeln.
Noch allerdings ist Chambery das einzige Team der gesamten Liga ohne
echten Neuzugang. Ibrahim Diaw (29), Kapitän und Halblinker
von Absteiger Paris HB, der vorübergehend in den Fokus
der Savoyer geraden sein soll, entschied sich soeben
für den verletzungsgeplagten Ligakonkurrenten Istres.
Ob sein Vereinskollege, Nationalkreisläufer Cedric Sorhaindo,
den Weg nach Savoyen einschlägt, ist zur Stunde noch
unklar. Am 10. September müssen die Gelb-Schwarzen
zum Auftakt in eine ungewisse Saison nach Toulouse
reisen. Ob in der "ville rose" der Grundstein
für eine rosige Zukunft liegt, bleibt abzuwarten.
(Von Dr. Oliver Schulz)