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28.08.2010 Mannschaft

"Das Entscheidende ist der Puls"

THW-Trainer Alfred Gislason schwört auf wissenschaftliche Trainingsmethoden

Aus dem Zebra-Journal der Kieler Nachrichten vom 27.08.2010:

Im Sommer 2008 geschah, berichtet Burkhard Weisser, eine trainingsmethodische Revolution beim THW Kiel. Bis dahin hatte Noka Serdarusic auf seinen reichen Erfahrungsschatz als Trainer vertraut, eine sportmedizinische oder sportwissenschaftliche Begleitung für den physischen Bereich existierte nicht beim erfolgreichsten Handball-Club Deutschlands.
Serdarusic war ein Schleifer, ein Trainer, der die Profis stets bis an die körperlichen Grenzen trieb. Laktatmessungen interessierten ihn wenig. "Serdarusic hat immer gesagt: 'Wir werden auch so Deutscher Meister'", erinnert sich Weisser, der Professor für Sportmedizin an der Kieler Christian-Albrechts-Universität.

Dann kam der Isländer Alfred Gislason an die Förde und alles änderte sich. "Das war ein starker Kontrast", sagt Weisser. "Er holt sich systematisch Rat bei der Sportmedizin und Sportwissenschaft." Linksaußen Dominik Klein berichtete damals, auch Gislason lasse hart trainieren. Aber man absolviere die Sprints im Training nun "mit Lichtschranken und Geschwindigkeitsmessern", und hinterher werde "alles genauestens analysiert". Die exakten Methoden des Isländers aber sind selbst Insidern nicnt bekannt.

Wenn es nach dem 50-Jährigen geht, bleibt das auch so. Es ist schließlich sein Betriebsgeheimnis. Er hat lange experimentiert und viel Zeit investiert, um seine aktuellen Trainingspläne zu entwickeln. "Eigentlich habe ich erst in Magdeburg angefangen, mich intensiv mit diesen Dingen zu beschäftigen", erzählt Gislason, und das, was er damals vorfand, entstammte noch der Steinzeit der Trainingsmethodik. Er räumt ein, dass einige Experimente schief gingen und Muskelverletzungen zur Folge hatten.

Oft wurde damals noch trainiert, wie er es in den 1980er-Jahren als Profi beim TuSEM Essen unter Petre Ivanescu erlebt hatte. "Damals galt es als gutes Training, wenn die Sportler vor Erschöpfung umkippten", erzählt Gislason. An einige Sprüche von damals kann er sich noch erinnern, zum Beispiel: "Laktat läuft nicht."

Exakte Trainingspläne will Gislason also nicht veröffentlichen, aber er ist doch bereit, ein paar grundsätzliche Dinge zu erklären. "Wichtig ist, dass man individuell trainiert", sagt er. Flügelspieler müssten sowohl hinsichtlich Schnelligkeit als auch für die Ausdauer anders aufgebaut werden als Kreisläufer oder Torleute. "Das Entscheidende ist der Puls", erklärt Gislason, deswegen bekomme jeder Profi eine Vorgabe. unter welchem Puls er im Training für Grundlagenausdauer zur laufen habe. Beim VfL Gummersbach wirkte sich das früher so aus, dass die Torhüter das Ende des Feldes zierten. Und weit vorn lief Sigurdsson ein einsames Tempo. Ein einheitliches Tempo hätte fatale Folgen, erklärt Gislason. "Für ein Drittel der Mannschaft wäre es gut, ein Drittel wäre unterfordert, und das letzte Drittel würde sich verletzen."

Für den Bereich Schnelligkeit/Ausdauer arbeitet er mit unorthodoxen Methoden. Dafür lässt er die Profis Vierer-Serien so laufen, dass sie einen Sprint nicht maximal schnell, sondern in einer vorgegebenen Zeit absolvieren. "So bekommt man ein gutes Geschwindigkeitsgefühl", sagt Gislason. Beispielsweise die Flügelspieler dafür, wie schnell ein Tempogegenstoß zu laufen sei, ohne dass man beim Wurf übersäuert ist. "Noch wichtiger aber sind die Pausen", sagt Gislason. Ohne Regeneration sei das Verletzungsrisiko sehr hoch. Dabei sei er als Trainer enorm gefordert, da sich einige Profis zu viel zutrauten, die müsse man dann stoppen.

Es gebe Profis, die solche Übungen auf den Punkt brächten, sagt Gislason. Christian Schöne beispielsweise damals in Magdeburg. Auch Gueric Kervadec und Olafur Stefansson besitzen ein sehr gutes Tempogefühl. Es geht aber um den Effekt dieser Serien: "Nach einer gewissen Zeit merken die Spieler, dass man schneller wird." Und damit werde zumindest für diesen Bereich das Credo Gislasons, das an das von Jürgen Klinsmann erinnert, erfüllt: "Jeden Einzelnen besser zu machen, das ist das Ziel."

Die Serienläufe hat Gislason entwickelt mit einem Trainingsmethodiker aus der Leichtathletik, dessen Namen er nicht preisgeben will. Natürlich musste er dessen Erfahrungen an die Bedürfnisse des Handballs anpassen. "Wenn man das aus der Leichtathletik Eins zu Eins auf den Handball übertragen würde, dann würde man absteigen", sagt Gislason, der sich stets über den neuesten Forschungsstand in vielen Sportarten informiert.

Die Gabe, Methodikern und Wissenschaftlern aufmerksam zuzuhören, habe Gislason schon ausgezeichnet, als er seinen Trainerschein machte, berichtet Dr. Rolf Brack, der damals das Trainerseminar leitete. Der Balinger Trainer und Handballdozent hält Gislasons Streben nach neuen Erkenntnissen für vorbildlich. "Er ist auf diesem Gebiet anderen Trainern weit voraus", sagt Brack. Sportmediziner Weisser ist fasziniert davon, wie differenziert Gislason arbeitet, und wie groß dessen Netzwerk aus Spezialisten ist. "Wir sind bei weitem nicht die einzigen Berater", weiß Weisser.

Gislasons Einschätzung, dass die Sportwissenschaft für den physischen Bereich "erst an Anfang" stehe und viele Dinge noch unerforscht seien, hält der Professor für Understatement. Das, was Gislason methodisch abliefere, sei beileibe kein Blindflug. "Das ist eher ein Versuch, das Flugzeug über den Nebel zu heben", sagt Weisser. "Gislason schwebt mit seinen Methoden über den Wolken."

(Aus dem Zebra-Journal der Kieler Nachrichten vom 27.08.2010)


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