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02.05.2008 Mannschaft / Champions League

"Handball-World": THW vor dem großen Finale

Titel im Visier, Strapazen in den Kleidern

Von Frank Schneller, © 2008 www.handball-world.com:

34:24 gegen Nordhorn! "Ein tolles Ergebnis". Sagt der Trainer. Na bitte: Kiel nach dem Duselsieg in Berlin wieder obenauf. Letztlich gar souverän. Und das so kurz vor dem Champions League-Finale gegen Ciudad Reals Millionentruppe. Da bleiben kaum Fragen offen - oder? Doch! Zumindest können einige gestellt werden. Denn bei genauerem Hinsehen werden nicht nur Noka Serdarusics Sorgenfalten im oberflächlich entspannten Gesicht des Coaches erkennbar, wenn der sich unbeobachtet wähnte, sondern auch die Gründe dafür: Der THW hat zwar - gerade nach dem Sieg gegen Nordhorn - weiterhin die Möglichkeit auf die Verteidigung des Triples. Aber mit Blick auf die personellen Variationsmöglichkeiten des Starensembles von Ciudad Real wünschte man sich aus Kieler Sicht, die Mannschaft wäre in der Verfassung der starken Märzwochen und des Galaauftritts gegen Barcelona Anfang April.
Doch der THW, das überspielt auch der wichtige Bundesliga-Erfolg gegen letztlich zu fahrige Nordhorner nicht, ist, umgangssprachlich formuliert, "ziemlich platt". Allen voran, der kräftigste, eigentlich energiereichste Kieler: Nikola Karabatic. Der fragt sich längst selbst, "ob die Kraft noch reicht" - und wo er sie "hernehmen soll". Ungeachtet von Torquoten, aber gezeichnet von den Strapazen - der weltbeste Handballer ist ausgepowert. Er wirkt müde, nicht mehr so elanvoll. Sein Trainer widerspricht nicht. Im Gegenteil: "Normalerweise protestiert Nikola, wenn man ihn raus nimmt. Heute ist er ohne zu Murren auf die Bank gekommen - das sagt alles über seinen momentanen Fitnessstand.", so Serdarusic.

"Er ist ausgepowert, hat die letzten zwei Wochen nur die Spiele gespielt und nicht trainiert. Sein Fuß macht große Probleme - und jeder sieht, dass Nikola nicht mehr der Alte ist", erklärt der Kieler Trainer. Serdarusic weiter: "Wer einen Karabatic hat, freut sich, dass er einen hat. Er gibt selbst in jedem Training 150 Prozent, hat Spaß am Trainieren und saugt Hinweise wissbegierig auf. Momentan ist es für ihn aber schwierig, sich weiter zu entwickeln, da er in jedem Spiel sechzig Minuten lang durchspielen muss. Erst wenn er wieder Pausen bekommen kann, wird man ihn wieder in seiner alten Verfassung sehen."

Ausgerechnet jetzt, wo es in der Königsklasse darum geht, den Titel zu verteidigen, kann der französische Ausnahmekönner offenbar nicht mehr, was er bislang immer konnte: Noch einen Gang hoch schalten, wenn es eigentlich nicht mehr geht. Dass er gegen Nordhorn im zweiten Durchgang noch zu fünf Toren kam, lag auch an der am Ende nachlassenden Gegenwehr der Gäste. Ein Blick auf die Körpersprache des Siegerprototyps verrät es: Das Unmögliche kann er in der jetzigen Verfassung nicht mehr möglich machen. Dass er gegen Ciudad und gleich nach dem Rückspiel beim alles entscheidenden Ligaauftritt in Göppingen nochmals oder wieder richtig auf Touren kommt, ist bei ihm, dem Adrenalinwunder, zwar nicht auszuschließen, aber zumindest äußerst fraglich.

Fraglich ist auch die Verfassung von Kim Andersson, der zwar unbestritten Weltklasse verkörpert, aber zuletzt mehr als nur einmal sein Potential nicht umsetzte. Im Angriff wirkte er gegen Nordhorn zum wiederholten Mal gehemmt, gab die Wurfverantwortung gerne und oft weiter. Gegen die HSG mag es daran gelegen haben, dass er den Respekt vor Gästekeeper Peter Gentzel offenbar nicht ablegen kann. Sein Landsmann jedenfalls scheint das Wurfvertrauen des Linkshänders stark zu hemmen. Eine Momentaufnahme - gewiss. Aber eben auch eine Wiederholung vergleichbarer Beobachtungen in den letzten Monaten - man denke nur an das Final Four in Hamburg. Die Alternative, Christian Zeitz, der übrigens ausgerechnet mit den Rhein Neckar-Löwen in Verbindung gebracht wird, wo sein "Lieblingsfeind" Thorsten Storm das Management bekleidet, ist nach Aussage Serdarusics nach seiner Verletzung noch nicht wieder soweit.

Von der strapaziösen Saison sichtlich gezeichnet sind auch Marcus Ahlm - obendrein angeschlagen - und Vid Kavticnik. Zwei Spieler mit nahezu hundertprozentiger Einsatzzeit in allen Wettbewerben und folglich ausgezehrt wirkend. Übrigens geht es bei all den Betroffenen nicht nur um die körperliche, sondern auch um die mentale Frische - nicht zu verwechseln mit der zweifellos vorhandenen Motivation und dem Siegeswillen, der Nordhorn aufstecken und letztlich aus einem lange Zeit mäßigen und holprigen Spitzenspiel noch eine Gala für die THW-Fans werden ließ.

Die phasenweise erkennbaren Konzentrationsstörungen in den letzten Wochen, inklusive der Fehlwurfquote aus guten Positionen, sind jedoch ein Indiz für die fehlende geistige Frische. Immerhin: Leitwolf Stefan Lövgren, der in der ersten Maihälfte gegen Ciudad und Göppingen nun dreimal in Folge seine enormen Führungsqualitäten ausspielen muss, wird diese durch Routine und Intuition auffangen, obschon der Stratege gegen Nordhorn froh gewesen sein dürfte, nicht in Abwehr und Angriff über die volle Distanz gehen zu müssen.

Der vermeintliche Stolperstein für den Titelverteidiger konnte Kiel nur rund 40 Minuten lang gefährden, danach führte ein Zwischenspurt des THW - ausgerechnet nach der Schwächeperiode, in der die HSG aus einem 11:16 ein 17:17 machte, dazu, dass die Gäste gedanklich wohl ihrerseits auf Europacup umschalteten. Denn auch die Grafschafter stehen ja in einem Finale - gegen Kopenhagen im EHF-Cup. Zudem liefen sie offenkundig in die Kieler Taktikfalle: Erlend Mamelund zeigte zwar eine beeindruckende Leistung mit mehreren Distanzgeschossen, doch ließ der THW sich darauf ein, schließlich wurde Holger Glandorf (ein Tor!) auf der anderen Rückraumseite durch den vorgezogenen Dominik Klein - vorne wie hinten in Topform - komplett ausgeschaltet.

Überhaupt gab die Defensive der Kieler schließlich doch Grund zum Optimismus für die kommenden Aufgaben. Die Abwehr funktionierte hervorragend, allerdings wird Ciudad ein anderes Kaliber sein, mit dem es umzugehen gilt (Serdarusic: "gegen die reicht die Leistung von heute nicht"). Nordhorn hielt zwar länger dagegen als noch im Heimspiel vor kurzem gegen Flensburg, als auch der Europapokal Vorrang hatte für die HSG, doch als Barometer für das Königsfinale diente die Partie nicht.

Dennoch kam Serdarusic nicht umher, eine Spitze in Richtung Ola Lindgren loszuwerden - Indiz für den Ärger über die seltsame Partie Nordhorns gegen Kiels Verfolger Flensburg: "Ich möchte Ola beglückwünschen, dass er es geschafft hat, sein Team so zu motivieren, dass es hier mit einhundert Prozent gespielt hat. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass wir nicht sechzig Minuten lang voll gefordert worden wären. Der zweite Gang wäre natürlich besser gewesen, dann wären wir fitter für das Spiel am Sonntag gewesen." Dieses Statement war eindeutig zweideutig.

Dominik Klein übrigens hatte schon am Tag vor dem Spiel geahnt, dass es sein Trainer bei der Motivation vielleicht weniger mit dem Revanchegedanken für die Hinspielniederlage hält, sondern, wie "Mini" in einem Interview mit dem Autoren verriet, womöglich Nordhorns Spiel gegen Flensburg als Hinweis und "Heißmacher" hernehmen würde. Er mag durchaus den richtigen Verdacht gehabt haben, auf dem Spielfeld jedenfalls hatte er das Konzept seines Trainers glänzend umgesetzt und obendrein eine tolle Wurfquote (6 Tore) zu verzeichnen. Er war es auch, der mit zwei Treffern zum 18:17 und 19:17 innerhalb weniger Sekunden den Spuk des Nordhorner Aufbäumens und der drohenden Wende ein Ende bereitete.

Für beide Teams geht es nun darum, sich ab sofort auf die jeweiligen Europacup-Highlights zu konzentrieren. Am Wochenende geht es los. Beziehungsweise weiter. Dem THW steht wohl die ungleich schwerere Aufgabe bevor. Die HSG Nordhorn kann seine lange Zeit glänzende Saison mit einem internationalen Titel schmücken. Sie wird vermutlich anders auftreten gegen Kopenhagen als am gestrigen Mittwoch. Für die Kieler, die sich ebenfalls steigern müssen, steht gegen Ciudad der erneute Dreifachtriumph auf dem Spiel. Mit Blick auf die Terminenge und das unmittelbar darauf folgende Match in Göppingen geht es für sie eventuell nicht nur um Teil zwei, sondern gar um Alles.

Und genau das lässt nebenbei Flensburg weiter vom zweiten Meistertitel träumen. Einen Punkt nur liegt die SG, die eine tolle Saison spielt, nur hinter dem Erzrivalen. Da darf noch gehofft werden. Und man darf es auch öffentlich formulieren. Hoffen ist schließlich legitim, derzeit indes auch alles, was dem wider vieler ursprünglicher Erwartungen mal wieder stärksten Kontrahenten des Rekordmeisters derzeit bleibt. Dessen Selbstvertrauen jedenfalls, soviel war nach dem Nordhorn-Spiel zu vernehmen, ist trotz müder Knochen am geringsten angegriffen.

(von Frank Schneller, © 2008 www.handball-world.com)


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