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25.11.2010 Mannschaft / Medien

"Handball-Magazin": Der Erfolgseintopf

Der Aufschwung des THW Kiel begann Anfang 1993 in Alt-Duvenstedt - mit einem Grünkohlessen und dessen weitreichenden Folgen

Aus dem "Handball-Magazin" 11/2010, von Erik Eggers:

Grünkohl stand am Anfang. In einer kleinen Kneipe in Alt Duvenstedt, einem Örtchen im Zentrum Schleswig-Holsteins, labten sich Uwe Schwenker, Geschäftsführer des THW Kiel, und Noka Serdarusic, Trainer der SG Flensburg-Handewitt, gemeinsam an dem traditionellen Wintermahl. Und natürlich erregte dieses Treffen Anfang des Jahres 1993 sofort Aufsehen im hohen Norden, wo man Handball seit Jahrzehnten lebt. "Wenn sick de Manager vun Kiel mit de Trainer von Flensburg drüp, dann is dor wat in Busch!", erkannte der Wirt sofort. Schwenker verpflichtete den Gastgeber zur Verschwiegenheit - mit dem Versprechen, der THW Kiel werde in Alt Duvenstedt zu einem Freundschaftsspiel auflaufen.
"Ich wollte Noka unbedingt", erinnerte sich Schwenker später. Als Serdarusic dann tatsächlich im Februar als Trainer in Kiel präsentiert wurde, floss böses Blut. Die Flensburger warfen dem Trainer, als sie ihn feuerten, Schimpfwörter hinterher. Mit der Verpflichtung des Mannes, der schon in der Saison 1980/81 das Kieler Publikum als Kreisläufer begeistert hatte, gewann Schwenker gleichzeitig einen klubinternen Machtkampf: Heinz Jacobsen, der Kiel in den 13 Jahren zuvor geführt hatte, favorisierte damals Klaus Langhoff als Nachfolger Holger Oertels. "Zu Heinz habe ich gesagt: So läuft das nicht. Ich bin kein Pseudo-Geschäftsführer", erzählt Schwenker.

Zunächst stapelte der neue Trainer tief. "Ich weiß, dass ich unter Druck stehe, aber damit kann ich umgehen. Eine Meisterschaft als Garantie habe ich aber auch nicht im Gepäck", erklärte Serdarusic. Im August 1993 klang das schon forscher. "Ich habe hier einen Zwei-Jahres-Vertrag. Und in dieser Zeit will ich den Titel holen." Ähnlich zielstrebig trat Klaus-Dieter Petersen auf, der zunächst nach Flensburg hatte wechseln wollen, dann aber doch in Kiel unterschrieben hatte, auch wegen des Trainers. "Ich habe mit Gummersbach immer um Titel mitgespielt, das will ich hier auch."

Rund eineinhalb Jahre zuvor hatte sich der THW Kiel eine neue, moderne Struktur gegeben: Die Bundesliga-Mannschaft war aus dem Gesamtverein ausgegliedert und als GmbH & Co. KG organisiert worden. Damit war Schwenker nicht mehr vom Wohlwollen des Vereins abhängig, sondern konnte Entscheidungen zügig umsetzen. Nun sollte mit Serdarusic auch sportlich eine neue Ära eingeleitet werden: "Es soll durch gesteigertes Trainingspensum und erhöhte Trainingsintensität das Leitungspotenzial des einzelnen Spielers gefordert und gefördert werden." Vorher war fünf Mal die Woche trainiert worden, fortan sieben Mal, ein weiterer großer Schritt hin zum Vollprofitum, den erst die GmbH ermöglicht hatte. Meisterfavorit war der THW dennoch keineswegs. Alle 18 Trainer sahen den Titelverteidiger SG Wallau/Massenheim ganz vorn. Dahinter folgten Niederwürzbach, Essen, Hameln, Magdeburg, Lemgo. Niemand hatte den THW auf der Rechnung.

Doch der setzte mit dem 23:16-Auswärtssieg in Essen schon am ersten Spieltag ein viel beachtetes Zeichen, als er einen 7:10-Rückstand aufholte. Serdarusic aber feierte nicht - sondern schickte seine Spieler zu einem Waldlauf. Ein symbolischer Akt, der allen einbläuen sollte, dass noch nichts erreicht war. Die Maßnahme fruchtete. Als der THW Mitte November ein 25:25-Remis beim Meister Wallau/Massenheim erreichte, war er bei 16:4-Punkten immer noch ungeschlagen. Die Gegner zerschellten allzu oft an der aggressiv interpretierten, jugoslawischen 3:2:1-Deckung mit Petersen im Zentrum. Auch eine 5:1-Formation hatte der THW unter dem neuen Coach plötzlich zur Verfügung.

Es folgten zwar auch Ausrutscher, die Niederlagen in Bad Schwartau (23:24) und die herbe 14:21-Demütigung in Flensburg. Und auch, als der THW in Magdeburg trotz klarer Führung mit 14:20 unterging, drohte die Wiederholung des Szenarios aus den 1980er Jahren: Der THW zeige Nerven, hieß es wieder in den Medien. "Wir haben gespielt wie die Mädchen", wetterte Petersen hinterher.

Doch es kam nicht zum schon fast obligatorischen Einbruch. Nun zahlte sich die höhere Trainingsintensität aus, und das Team präsentierte sich als Einheit, mit den Säulen Torwart Pumpe Krieter, Abwehrchef Petersen und Regisseur Magnus Wislander. "Es ist kein Grund vorhanden, nervös zu werden. Solange wir gewinnen, können die Hamelner machen, was sie wollen", trotzte Schwenker allen Unkenrufen - und tatsächlich, nach dem 19:19-Remis bei Verfolger Niederwürzbach war der Titel bei vier Punkten Vorsprung, dem klar besseren Torverhältnis und nur noch vier ausstehenden Spielen greifbar. Serdarusic aber mahnte: "Ich habe in meiner Karriere schon zu viel erlebt, um voreilig zu feiern."

Die nächsten Tage erlebte die Handballstadt Kiel wie in einem Rausch. Als der THW den TuS Schutterwald (24:17) klar besiegte, fehlten nur noch zwei Punkte zum ersten Titel seit 31 Jahren. Am 20. April 1994 kam es zum Showdown gegen Bad Schwartau. Der alte Rivale wehrte sich lange, hielt bis zur Pause ein 9:9-Remis - bis Wolfgang Schwenke den Bann löste. Sein Doppelschlag zum 19:15 entschied das Spiel - und die Zuschauer feierten schon selig, da der Titel bei vier Punkten und 34 Toren Vorsprung vor Hameln nun praktisch in Kiel war. Noch während des Spiels lief ein Zuschauer aufs Spielfeld, um Wislander zu umarmen. "Ich bin fix und fertig, aber wir sind einen großen Schritt vorangekommen", ließ Serdarusic wissen. "Diese Stadt und der Verein haben 31 Jahre auf den Titel warten müssen. Alle sind hier irgendwie närrisch", erklärte Schwenker die Besoffenheit der Fans.

Am vorletzten Spieltag beseitigten die Zebras mit dem 24:15 gegen Rheinhausen auch alle theoretischen Zweifel. 8000 schwarze und weiße Luftballons segelten nach Schlusspfiff von der Decke der Ostseehalle, in der viele altgediente Recken wie Rolf Krabbenhöft Tränen der Freude weinten. Wislander stellte Serdarusic in voller Montur unter die Dusche. Und mehr als 15000 Fans feierten den lang ersehnten vierten Titel mit Sirtaki-Tänzen, Polonesen und "Ole, hier kommt der THW"-Gesängen.

Die Ausgiebigkeit, mit der diese Meisterschaft nun in Kiel gefeiert wurde, ist längst zu einem Mythos geronnen. Die Spieler nahmen Pinsel in die Hand, um das Vereinsheim am Krummbogen schwarz und weiß anzumalen, und mit der anschließenden Party in einer Disko war es nicht getan. Eine Woche lang tourten Spieler und Fans durch die Landeshauptstadt, das Radio Schleswig-Holstein klärte die Hörer auf, wo die Party stieg. Zu den Höhepunkten zählte, dass Petersen im nächtlichen Bad im Kleinen Kiel ein Fahrrad fand und fortan damit durch Kiel fuhr. THW-Fans benannten die Knorr-Straße im Kieler Stadtteil Wik, die eigentlich Admiral von Knorr gewidmet war, in "Thomas-Knorr-Straße" um, weil der Rückraumschütze mit 221 Treffern beinahe Torschützenkönig geworden war.

Als Väter dieser großen Mannschaft der Saison 1993/94 galten drei Männer: Jacobsen, der den THW in der Tabellenspitze etabliert hatte; Schwenker, der die neue GmbH prägte und den Trainer geholt hatte. Und natürlich Serdarusic, dessen Erfolgsformel simpel klang: "Bessere Kondition und variableres Abwehrspiel", resümierte er. "In Kiel wurde immer weniger trainiert als in anderen Klubs."

Damals ahnte niemand, dass dieser Titel den Beginn einer neuen Ära markierte. Das Duo Schwenker/Serdarusic arbeitete auch nach dem Titel besessen weiter und feierte bis 2008, als sich der gemeinsame Weg der beiden Protagonisten des Kieler Siegeszuges trennte, sagenhafte elf Deutsche Meisterschaften. Jener Weg, der bei einem Grünkohlessen in der schleswig-holsteinischen Provinz begonnen hatte.

(Von Erik Eggers, aus dem "Handball-Magazin" 11/2010)


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