Aus dem Zebra-Journal der Kieler Nachrichten vom 08.02.2014:
Uwe Brandenburg (59) wurde Physiotherapeut der Ligamannschaft,
als der THW Kiel noch von einer Teilnahme im Europapokal
träumte, als die Bundesliga aus 14 Mannschaften bestand und
der Pokalwettbewerb für die Zebras zumeist sehr zeitig endete.
Trainiert wurde ein- bis zweimal wöchentlich. Zeiten, die sich in
den vergangenen drei Jahrzehnten stark geändert haben.
"Casey"
ist geblieben: Ein Porträt von U(we) bis (Brandenbur)G.
- Umfeld - Wäre das Umfeld nicht
so harmonisch, hätte ich dieses
Amt nicht so lange ausgeübt. In all
den Jahren hat kaum einmal ein
Spieler nicht in das Gefüge gepasst,
ein Verdienst der Verantwortlichen,
die diesbezüglich stets ein gutes
Gefühl hatten. Wenn es um das
Umfeld geht, sind bzw. waren mir
zwei Personen besonders wichtig:
Sabine (Holdorf-Schust, Leiterin
der Geschäftsstelle, d. Red.) ist für
mich die Mutter der Kompanie, sie
lebt diesen Verein mit ihrem Herzblut.
Der zweite ist Johann-Ingi Gunnarsson. Er war ein Trainer, der
alles ausprobiert und die Mannschaft vorangebracht hat. Er ließ
Wecker in der Kabine klingeln, um
die Mannschaft wachzurütteln. Er
ließ sie Ziele formulieren, war für
viele sportliche Einflüsse offen und
intensivierte so das Training. Ein
großartiger Psychologe. Wir waren
beide jung, beide neu in diesem Geschäft
und deshalb auch aufeinander
angewiesen.
- Weihnachten - Dieses Fest steht
für mich und meine Familie immer
im Zeichen des Handballs. An diesen
Feiertagen lässt sich gut ablesen,
wie stark die Belastung für die
Spieler, und damit für das gesamte
Umfeld, gewachsen ist. Als ich
beim THW als Physiotherapeut begann,
trainierte die erste Mannschaft
ein- bis zweimal in der Woche.
In der Liga gab es 26 Spiele, im
Europapokal war der THW anfangs
nicht vertreten, und im Pokal sind
wir meistens nicht weit gekommen.
Heute absolvieren die Profis allein
für den Verein rund 60 Pflichtspiele,
außerdem ist die Belastung viel
höher geworden. Der Sport ist intensiver
geworden, so gibt es heute
pro Spiel viermal so viele Angriffe
wie zu meinen Anfängen.
Außerdem sind die Spieler im
Schnitt 15 Zentimeter größer und
20 Kilo schwerer - da wirken bei
Zweikämpfen ganz andere Kräfte.
Angesichts dieser Belastung ist es
nur logisch, dass wir die Spieler
heute mit zwei Therapeuten bei
zwei Trainingseinheiten pro Tag
insgesamt acht bis zehn Stunden
lang betreuen. Ich bin der Meinung,
dass eine Grenze erreicht ist. Aus
therapeutischer Sicht müssten die
Kader größer und/oder die Spiele
weniger werden.
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Uwe und Eva Brandenburg und ihre beiden Söhne Bastian (li.) und Christoph, die
auch eine Ausbildung zum Physiotherapeuten abgeschlossen haben.
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Eva - Meine Frau. Um es mit Silbermond
zu sagen: Sie ist das Beste,
was mir je passiert ist. Wir haben
zwei Söhne, Bastian und Christoph,
die beide Physiotherapeuten
sind. Bastian, der Ältere, studiert
Medizin und hat das Physikum seit
einem Jahr hinter sich.
- Braunschweig - Da bin ich geboren,
viel mehr verbindet mich aber
nicht mit dieser Stadt. Aber: Ich bin
Fan der Eintracht geblieben, allerdings
habe ich nur ein einziges
Spiel live im Stadion gesehen -
Braunschweig gewann damals 5:1
gegen Holstein Kiel. Zu "B" würde
auch passen, dass ich mit Klaus
Eder (Physiotherapeut der deutschen
Fußball-Nationalmannschaft,
d. Red.) und Hauke Mommsen
(ehemaliger Mannschaftsarzt
der SG Flensburg-Handewitt, d.
Red.) ein Buch über Kinesio-Taping
geschrieben habe.
-
Reisen - Die schönste war sicherlich
die nach La Reunion. Im Juli
2011 machte der THW sein Trainingslager
auf La Reunion, der
Heimat von Daniel Narcisse. Als
Physiotherapeut einer Handballmannschaft
findet der Alltag zumeist
in Behandlungsräumen, Hotelzimmern
oder Sporthallen statt -
auf La Reunion konnte ich meine
Behandlungsliege mit Blick auf
den Indischen Ozean aufbauen.
Das war herrlich. Meine härteste
Dienstreise? Das war unser Spiel in
Wolgograd. Ein Spiel, das letztlich
abgesagt werden musste, weil kurz
vorher das Tauwetter eingesetzt
hatte und der geschmolzene Schnee
durch die Hallendecke getropft ist.
Ich erinnere mich noch gut daran,
dass wir bei Minusgraden rund
zehn Stunden in einem winzigen
Raum am Flughafen saßen und gar
nicht wussten, ob wir überhaupt
noch einmal abheben würden.
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Bei den Olympischen Spielen 1972 - die Segelwettbewerbe fanden in Schilksee statt - mischte
Uwe "Casey" Brandenburg als Fackelläufer mit.
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Anfang - Ich habe damals die 2.
Mannschaft des THW Kiel betreut,
als Hanno Klose bei der "Ersten"
aufgehört hat. Manager Heinz Jacobsen
hat sich bei "Huschel"
(Gerd Welz, d. Red.), dem Trainer
der "Zweiten", über mich erkundigt.
Offenbar war der so zufrieden
mit mir, dass Heinz mich dann gefragt
hat. Ich hatte große Lust,
schließlich war ich schon damals
THW-Fan, aber trotzdem musste
ich ein, zwei Nächte nachdenken.
Ich hatte mich gerade selbstständig
gemacht, war also ein Ein-Mann-Betrieb. Ich kann mich noch gut an
meinen ersten Einsatz erinnern.
Trainer war Herward Wieck, er
fragte am Ende seiner ersten Trainingseinheit
die Mannschaft, ob sie
mit den Übungen zufrieden gewesen
sei und er wiederkommen dürfe.
Er durfte. Seitdem ist die Arena
für mich der Nabel der Handballwelt.
Damals hieß sie noch Ostseehalle.
An die Umbenennung kann
ich mich bis heute nicht gewöhnen.
- Niederlagen - Die schlimmste, da
muss ich nicht lange nachdenken,
war die 24:29-Niederlage in Barcelona
(Rückspiel im Champions-League-Finale am 29.4.2000,
Kiel hatte das Hinspiel eine Woche
zuvor 28:25 gewonnen, d. Red.).
Bis zur 52. Minute pfiffen die
Schiedsrichter (Leon Kalis und
Enes Koric aus Slowenien, d.
Red.) fehlerlos, Barcelona führte
nur mit einem Tor - es fühlte sich
für uns alle so an, als würde das
Spiel auch so enden. Was gerecht
gewesen wäre. Doch dann gab es
drei, vier unerklärliche Entscheidungen
gegen uns. Es hat viele Niederlagen
gegeben, die wehgetan
haben, aber die waren dann auch
verdient. Diese nicht. Der Präsident
der EHF (Europäische Handball-Föderation, d. Red.), der Schwede
Staffan Holmqvist, rannte nach
dem Abpfiff aus der spanischen
Königsloge aufs Feld, um sich die
Schiedsrichter vorzunehmen. Aber
da war es zu spät.
Ich werde nie vergessen, wie "Löwe"
(Stefan Lövgren, d. Red.) mit
Tränen in den Augen vom Platz
ging. Uns alle hatte ein Gefühl der
Hilflosigkeit befallen. Der THW
war über 120 Minuten die bessere
Mannschaft gewesen, aber eine
Chance, erstmals die Champions
League zu gewinnen, hatte er
nicht.
- Distanz - Eine der schwierigsten
Dinge bei der Mannschaftsbetreuung.
Wir teilen Erfolge, Niederlagen
und Emotionen, müssen aber
Distanz halten und dafür sorgen,
dass Regeln eingehalten und Therapien
befolgt werden. Besonders
nah sind mir die "alten Schweden"
gekommen, Lövgren, Staffan Olsson
und "Max" Wislander, wir
schreiben uns heute noch zu Weihnachten.
Bei ihnen hat mir immer
ihre großartige Einstellung imponiert,
sie konnten mit Siegen und
Niederlagen gut umgehen. Die härtesten
Fälle? Ganz klar "Max" und
"Pitti" Petersen. Beide hatten eine
so hohe Schmerztoleranz, dass sie,
aus Therapeutensicht, oft zu spät
zur Behandlung gekommen sind.
Ich kann mich noch an ein Spiel erinnern,
in dem "Pitti" 40 Minuten
lang mit einem gebrochenen Finger
gespielt hat.
- Emotionen - Die intensivsten hatte
ich bei der Meisterschaft 1994,
der ersten nach 31 Jahren. 7000
entrückte Zuschauer, 7000 schwarze
und weiße Luftballons, die von
der Decke fielen, obwohl noch ein
Freiwurf ausgeführt werden sollte.
Den Pfiff der Schiedsrichter hörte
keiner, es zählte nur der Countdown
von Hallensprecher Rolf Körting. Ich saß mit meiner Familie
auf der Tribüne. Wir schauten
den Spielern zu, die zwischen den
Fans eine Polonaise tanzten und
tranken auf diese tolle Mannschaft.
Sie hatte an diesem Spieltag, dem
vorletzten, durch einen 24:17-Sieg
den Titel perfekt gemacht. Emotionen
gab es auch bei den Verlierern,
der OSC Rheinhausen stand anschließend
als Absteiger fest.
- Narbentherapie - Ein therapeutisches
Gebiet, in dem ich seit 20
Jahren erfolgreich arbeite und unter
anderem Fortbildungen und
Workshops anbiete. Mein berufliches
Zuhause ist inzwischen die
Sport-Reha Kiel, in der 70 Mitarbeiter
beschäftigt sind.
- Bestleistung - Im Zehnkampf lag
meine Bestleistung im Weitsprung
bei 7,18 Metern, im Hochsprung
bei zwei Metern. Diese Disziplinen
lagen mir, der abschließende 1500-Meter-Lauf im Zehnkampf dagegen
weniger. Ich war einmal deutscher
Jugendmeister im Zehnkampf,
mit der Mannschaft wurde
ich deutscher Juniorenmeister.
Trainiert habe ich zwölfmal in der
Woche. Der VfL Wolfsburg machte
mir sogar ein Angebot, aber mir
kam eine Verletzung dazwischen.
Als 21-Jähriger hörte ich schon mit
dem intensiven Training auf, der
Sport auf diesem Niveau und der
Beruf ließen sich nicht mehr vereinbaren.
Der Zehnkampf hat mich
aber unter anderem gelehrt, dass
man ein Sieger sein kann, obwohl
man zuvor zehnmal verloren hat.
- Ungarn - Die therapeutische Begleitung
der Ungarn bei der WM 2007 in Deutschland war eines
meiner schönsten Erlebnisse.
Noch heute ist es eine Freude, diese
tollen Handballer wiederzusehen
und bei einem Spiel in den
Arm zu nehmen. Besonders gut ist
mir Torhüter Nenad Puljezevic in
Erinnerung geblieben. Er hatte so
große Probleme, dass er eigentlich
kaum spielfähig war. Wir haben
viel miteinander gearbeitet, und er
lieferte eine überragende Vorrunde
bei dem Turnier ab.
- Riechsalz - Bei meinem ersten
Einsatz, das werde ich nie vergessen,
blieb Klaus Elwardt nach einem
Zweikampf am Boden liegen.
Ich rannte aufs Feld, doch er rührte
sich nicht. Ich war völlig aufgelöst,
deshalb fiel es mir nicht gleich auf,
dass Klaus mich angrinste - er hatte
mich reingelegt. Danach nahm
ich jahrelang Riechsalz mit. Der
Geruch ist so beißend, da hätte sich
keiner mehr einen solchen Spaß
mit mir erlaubt.
- Gunnarsson - Ein Satz von
Johann-Ingi Gunnarsson (THW-Trainer
von 1982 bis 1986, d. Red.)
hat mich mitgeprägt: "Größe ist,
andere neben sich groß werden
zu lassen."
(Aus dem Zebra-Journal der Kieler Nachrichten vom 08.02.2014)