23./24.12.2009 - Letzte Aktualisierung: 24.12.2009 | Bundesliga |
Update #2 | KN-Bericht, weitere Stimmen und Spielbericht ergänzt... |
Ohne Daniel Narcisse hatten die Zebras die mit rund 800 Kilometern weiteste Auswärtsreise der Saison am Vorabend des 24. Dezember angetreten. Auf der Gegenseite musste Dr. Rolf Brack mit Satak, Feliho, König, Oelze und Hocj alle etatmäßigen Regisseure ersetzen. Auch deshalb wollte vor dem Anpfiff wohl niemand der 2239 Zuschauer an eine Sensation gegen den Rekordmeister glauben, zumal HBW Balingen-Weilstetten bisher doch alle Spiele gegen den THW Kiel verloren hatte.
Trotzdem standen die Fans von Beginn an wie ein Mann hinter ihrer ums sportliche Überleben in der Eliteliga kämpfende Mannschaft. Und die machte von Beginn an klar, dass sie dem THW Kiel über bedingungslosen Kampf und vor allem Schnelligkeit beikommen wollte - und mit einer guten Abwehr. Hinter der brachte sich Torhüter Marinovic schnell auf Betriebstemperatur, vor allem Jicha fand in ihm seinen Meister. Und so war Kim Anderssons 4:3 (6.) auch nicht der Weckruf für den THW Kiel: Dieser konnte sich schon in der Anfangsphase bei seinem Torhüter Thierry Omeyer bedanken, dass er nicht in Rückstand geriet. Auch, weil die Kieler Abwehr den mutig anstürmenden Balingern - und da vor allem Philipp Müller - wenig entgegen setzte: Vier Tore erzielte der Balinger Halblinke in den ersten zehn Minuten, brachte seine 7:5 (10.) wieder mit zwei Toren in Führung. Da hatte Alfred Gislason bereits mit einer Auszeit versucht, die eigenen Reihen zu ordnen. Nach Strobels 8:5 (12.) beorderte er Palmarsson für den glücklosen Jicha auf die Platte - indes: Die Gastgeber und ihre Fans in der engen Halle waren da längst auf Betriebstemperatur. Sie rieben sich vor allem an Dominik Klein, mit dem Ettwein und Lobedank permanent Streit suchten. Der Kieler Linksaußen reagierte kühl, traf vor der Pause viermal für den THW.
Doch Ruhe kam auch durch seine Treffer nicht ins Team: Die Kieler wirkten müde, wurden zudem von den Balingern nicht in die Partie gelassen. Als Ahlm, Andersson und Sprenger auf 8:9 verkürzten, legten die Gastgeber durch Müller und Birkle wieder auf drei Tore vor (17.). Rund um die 20. Minute herum schien der THW die Partie trotzdem besser in den Griff zu bekommen: Palmarsson traf zum Anschluss, Balingen zum vierten Mal nur den Pfosten und Klein von Außen zum 12:12. Als wenig später Palmarsson sogar das 14:13 für die Kieler erzielen konnte, schien der THW auf einem guten Weg. Dabei hatte er aber die Rechnung ohne die eigene Wurfschwäche im Angriff und die Konsequenz der Gastgeber gemacht: Die wirbelten weiter, nutzten ihre Chancen und setzten die Zebras damit unter Druck. Die Halle tobte, die Zuschauer schrien HBW unentwegt nach vorn - die Fans witterten die Sensation. Jicha mit seinen ersten beiden Toren verhinderte dann aber eine Halbzeitführung der Gastgeber - mit 18:18 wurden die Seiten gewechselt.
Wer nach der Pause auf einen aufbegehrenden THW gehofft hatte, sah sich bitter enttäuscht. Die Gastgeber machten da weiter, wo sie aufgehört hatten: mit schnellem, schnörkellosem, aber dennoch variablem Spiel. Die Kieler hingegen ließen die Gastgeber zu oft gewähren, zogen im Angriff zu viele Fahrkarten und leisteten sich eine hohe Anzahl technischer Fehler. Trotzdem schaffte es der THW, in der zunehmend schneller werdenden Partie mitzuhalten, die immer mehr einem Scheibenschießen glich: Sechs Tore fielen allein zwischen der 44. und 46. Minute. Als Ilic per Siebenmeter zum 28:28 ausglich, hofften die vielen schwarz-weißen Anhänger in der Balinger Sparkassen-Arena auf einen starken Schlussspurt ihrer Zebras. Doch dagegen hatte Rolf Brack ein Mittel: Er brachte den unlängst aus Düsseldorf nach Schwaben transferierten Ivan Zoubkoff für den keinesfalls schlechten Nicola Marinovic zwischen die Pfosten. Und Zoubkoff nagelte seinen Kasten zu. Egal, welches Zebra ihn bezwingen wollte, Zoubkoff war schon da. Wieder fielen fünf Tore in zwei Minuten - dieses Mal brachten Wagesreiter, Wilke, mit sieben Toren in der zweiten Hälfte überragend, und Schuldt HBW aber mit drei Toren in Führung: 32:29 (49.).
Während die Halle nun endgültig einem brodelnden Hexenkessel glich, versuchte Gislason erneut mit einer Auszeit, seine Akteure aufzuwecken. Ohne Erfolg: Wieder hielt Zoubkoff, dieses Mal einen Andersson-Wurf, wieder kam Balingen in Ballbesitz, und wieder vollstreckten die Schwaben eiskalt. Temelkov verwandelte einen Siebenmeter zum 33:29 (50.). Erst jetzt schienen die Kieler den Ernst der Lage wirklich zu begreifen. Gislason stellte auf eine 5-1-Deckung gegen Lobedank um, und nun kam auch die Abwehr endlich zum Zug. Zeitz klaute sich den Ball, schickte Klein zum 31:33 auf die Reise. Die Abwehr setzte HBW unter Druck - Jicha traf per Gegenstoß zum 32:33. Klein fischte sich den Ball - Sprenger verwandelte den Konter zum Ausgleich (54.). Endlich funktionierte das lange Zeit nicht existente Tempospiel des THW - und Balingen zeigte sich kurz irritiert. Das bemerkte Brack, nahm sofort die Auszeit und schickte danach einen siebten Feldspieler auf die Platte - Müller nutzte die numerische Überzahl zur erneuten Führung. Und selbst in Unterzahl, Ettwein hatte in der 56. Minute seine dritte Zeitstrafe gesehen, ließ HBW - in Person von Zoubkoff - den THW nicht gewähren. Lobedank und Wilke machten auch in Unterzahl mit der THW-Abwehr, was sie wollten. Trotzdem: Die Kieler konterten meist postwendend, und als Jicha zwei Minuten vor dem Ende das 37:37 erzielte und Omeyer kurz darauf den Balinger Angriff stoppte, hätte es doch noch ein Happy-End für die Zebras geben können. Doch erneut verlor der Angriff den Ball, Lobedank bedankte sich mit dem 38:37. Und als Zoubkoff auch den folgenden Kieler Angriff entschärfte, kannte der Jubel keine Grenzen mehr: Lobedank setzte sich gegen die offene Abwehr des THW durch, markierte das 39:37 und sorgte im Schwabenland für einen nicht für möglich gehaltenen Jubelsturm.
Die Kieler hatten in diesem Moment die große Chance vergeben, als Tabellenführer in die EM-Pause zu gehen. Die erste Pflichtspiel-Niederlage nach fast genau sieben Monaten und 15 Spielen hat dieses Unterfangen jäh beendet. Nun gilt es für die Kieler, im kommenden Spiel am zweiten Weihnachtsfeiertag gegen den TV Großwallstadt wieder alles zu geben, um nicht den Anschluss an den HSV Hamburg zu verlieren. Anpfiff ist am 26. Dezember um 15 Uhr in der Sparkassen-Arena.
(Christian Robohm)
Es war ein Super-Sensationssieg, der überraschendste Erfolg in meinen 25 Jahren als Trainer. Ich habe vorher gedacht, das heute wird ein Schlachtfest. Jetzt fehlen mir die Worte. Wir hatten keine Chance, aber die haben wir genutzt. Uns war vorher klar, dass Kiel am Sonntag sehr emotional gefordert war, jetzt tut es mir leid für meinen besten Freund Alfred. Aber ich kann ihm nur versprechen, dass wir auch in Hamburg alles geben und wenn nötig auch länger mit einem siebten Feldspieler agieren werden.
Ich bin bitter enttäuscht. Wir haben in der Abwehr nicht zu unserer Lesistung gefunden und viel zu viele einfache Tore kassiert. Der Angriff war zu statisch. Wir wussten, dass wir hier konzentriert zur Sache gehen mussten. Aber der Sieg geht verdient an Balingen.
Gratulation an Balingen. Das ist eine ganz bittere Niederlage, wir haben es nicht geschafft, Spannung aufzubauen.
Ich bin überglücklich über das Handball-Wunder.
Aus den Kieler Nachrichten vom 24.12.2009:
Wie begossene Pudel schlichen die "Zebras" nach dieser Blamage, die in ganz Handball-Deutschland für ein kleines Erdbeben sorgte, in ihre Kabinen. "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es fehlte die Konstanz, es fehlte fast alles", sagte Rückraumspieler Filip Jicha. Dabei nahm sich der Tscheche selbst nicht aus. "Ich habe eine katastrophale Leistung in der ersten Halbzeit gezeigt. Das war beschämend. Weihnachten ist für mich gelaufen."
Allerdings nicht für HBW Balingen-Weilstetten. Die Spieler und ihre völlig aufgelösten Fans machten die Sparkassen-Arena zur "Hölle" und gleichzeitig zu einer Bühne für eine riesige Party. Wenige Stunden vor den stillen Tagen war Karneval auf der schwäbischen Alb, Balingen ließ es richtig krachen. "Ein Jahrtausendwunder ist das", schrie Linkshänder Dennis Wilke in die Mikrofone. Die HBW-Nummer acht hatte mit exakt acht Toren erheblich selbst zu diesem Triumph beigetragen. 39 Tore gegen Kiel, das sei heller Wahnsinn, ergänzte Philip Müller. "Dabei waren wir mit der Marschroute in das Spiel gegangen, uns nur nicht abschlachten zu lassen. Völlig verrückt." Konsterniert gab Trainer Alfred Gislason sein Statement in der Pressekonferenz ab. Extrem enttäuscht sei er, sagte der Isländer: "Wir haben das ganze Spiel nicht zu uns gefunden, im Angriff zu langsam, in der Abwehr passte ebenfalls nichts zusammen. Das war ein verdienter Sieg für Balingen, für uns ist das ganz, ganz bitter."
Schon beim Start stotterte der Kieler Motor. Der THW tat sich schwer, aus den Höhen des Gipfeltreffens gegen den HSV wohlbehalten im Bundesliga-Alltag zu landen. Sicher, die "Zebras" wollten, der letzte Biss aber blieb in der Kabine. Zäh und stockend agierten sie im Angriff, Jicha hatte kein Zielwasser dabei, Momir Ilic ging es anfangs nicht besser. Viele Tore mussten sich die Kieler hart erarbeiten, Normalform erreichte gestern kein einziges "Zebra". Die Menschen in der Balinger Sparkassen-Arena, die mit 2200 Zuschauern erstmals ausverkauft war und aus allen Nähten platzte, spürten schon vor dem Pausenpfiff, dass sie Zeuge eines Handballwunders werden könnten. Balingen legte dank der starken Halben, Müller und Lobedank, ständig eine knappe Führung vor, das 18:18 bei Halbzeit schmeichelte Kiel noch.
Zwar wirkte der THW nach dem Wechsel zunächst sicherer, übernahm zwischenzeitlich knappe Führungen, brachte aber nie Distanz zwischen sich und die wie um ihr Leben kämpfenden Balinger. Als HBW-Coach Rolf Brack ("mein größter Sieg in 25 Jahren Trainertätigkeit") in der 45. Minute Torhüter Ivan Zoubkoff zwischen die Pfosten beorderte, stellte er die Weichen endgültig auf Sieg. Nacheinander parierte der Franzose dreimal in Folge, nach 50 Minuten hieß es 33:29, die Halle stand Kopf. Gislason griff zum letzten Mittel, zur Auszeit. Es half für kurze Zeit, noch einmal pirschten sich die Kieler heran, hatten bei 35:35 gar wieder die Chance auf eine eigene Führung. Vergebens. Dann ging alles ganz schnell. Lobedank traf 60 Sekunden vor der Schlusssirene zum 38:37, Dominik Klein übernahm 45 Sekunden später die Verantwortung, wenigstens das Remis zu retten, scheiterte aber an Zoubkoff. Dann offene Kieler Manndeckung in den Schlusssekunden, Wurffalle für Lobedank. Aber der Balinger behielt die Nerven und brachte den Ball zum 39:37 vorbei an Thierry Omeyer: Weihnachts-Karneval in Balingen.
(Von Reimer Plöhn, aus den Kieler Nachrichten vom 24.12.2009)
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