Aus den Kieler Nachrichten vom 11.06.2010:
Auch ohne Titel wäre
Alfred Gislason zufrieden gewesen. Seine
Mannschaft habe sich gut entwickelt, sagt der THW-Trainer. Jetzt sitzt er in
seinem Haus in der Nähe von Magdeburg. Hier sei sein Ruhepol, verrät
Gislason im Interview. Es ist Zeit, um auf eine triumphale Saison
zurückzublicken. Auch auf Schlüsselszenen und eine denkwürdige Meisterfeier.
- Kieler Nachrichten:
-
Herr Gislason, Sie haben sich
direkt nach der Meisterfeier in Ihr Haus zurückgezogen? Was
bedeutet dieser Platz für Sie?
- Alfred Gislason:
-
Das ist ein absoluter Ruhepunkt für meine Frau Kara
und mich, in guten und schlechten Zeiten. Hier denke
ich nicht an Handball, der Handyempfang ist schlecht
und ich kann viel Zeit im Garten verbringen. Diese Stille ist
unglaublich. Sonst leben wir in unserem Berufsleben viel
aus dem Koffer und dem Container, deshalb ist es wichtig,
einen solchen Fixpunkt zu haben. Als ich beim SC Magdeburg
entlassen wurde und ein halbes Jahr ohne Job war, hat
mir dieses Haus viel Sicherheit gegeben. Für das Haus
war es auch gut, schließlich haben wir es als Ruine gekauft
und ich konnte viel daran arbeiten.
- Kieler Nachrichten:
-
Werden Sie hier nach dem Ende Ihrer Karriere dauerhaft leben?
- Alfred Gislason:
-
Das ist der Plan, Island ist uns zu weit weg. Denkbar wäre
auch, drei Monate pro Jahr dort zu verbringen und den
Rest hier. Gerade der August und die Zeit von Januar bis
März ist auf Island sehr schön. Meine alte Heimat Akureyri
ist bekannt für ihre guten Skipisten. Wir fühlen uns in
Deutschland sehr wohl, die Mentalität hier ist der isländischen
sehr ähnlich. Auch im Beruf, Stichwort Disziplin.
- Kieler Nachrichten:
-
Dazu zählt auch Pünktlichkeit. Sind Sie in Kiel schon einmal zu
spät zum Training gekommen?
- Alfred Gislason:
-
Nein. Einmal war ich vor einem Spiel ein paar Minuten zu
spät in der Halle. Das lag daran, dass ich seit meinem ersten
Heimspiel gegen Dormagen (endete 28:28, Anm. d.
Red.) nicht mehr diesen Anfahrtsweg nehme, obwohl er
der kürzere ist. Als ich einmal im Verkehr warten musste,
wäre ich über den noch pünktlich gekommen. Aber
da habe ich lieber in die Mannschaftskasse eingezahlt.
- Kieler Nachrichten:
-
Welche Rolle spielt in Ihrer Karriere Ihre Frau?
- Alfred Gislason:
-
Sie ist die Familienmanagerin und kümmert sich um die
Kinder. Sie macht einen unglaublichen Job, schließlich
sind wir inzwischen schon 14, 15 Mal umgezogen. Das hat sie
fast allein hinbekommen.
- Kieler Nachrichten:
-
Die letzten Wochen müssen auch für Sie sehr stressig gewesen
sein. Sind Sie in dieser Zeit auch dünnhäutiger geworden?
- Alfred Gislason:
-
Ich selbst nehme das nicht so wahr, aber meine Frau würde
Ihnen zustimmen. Sie sagt, dass ich zuletzt immer weniger
geredet habe. Vor dem Hamburg-Spiel
war ich allerdings sehr locker. Um den Stress abzubauen, fahre ich
zweimal in der Woche zwei Stunden auf dem Mountainbike.
Da kommen mir auch in taktischer Hinsicht die besten
Ideen. Im Winter bin ich außerdem zum Malen gekommen.
Das ist sehr entspannend. Das Ölgemälde, an dem
ich arbeite, ist aber längst nicht fertig.
- Kieler Nachrichten:
-
Was hätte aus Ihnen auch werden können?
- Alfred Gislason:
-
Ein guter Historiker sicher nicht, obwohl ich dieses Fach
studiert habe. Ein Seemann vielleicht. Oder ein Handwerker.
Als Elfjähriger habe ich in der Baufirma meines Vaters
als Handlanger angefangen. Und in Island ist es üblich,
dass die Arbeiter freitags zur Mittagszeit zur Flasche greifen
und die Handlanger die Arbeit machen. Ich habe also
viel gelernt. Das hat mir beim Umbau des Hauses geholfen.
- Kieler Nachrichten:
-
Sie haben in der Bundesliga zuvor Gummersbach und Magdeburg
trainiert. Spüren Sie in Kiel einen größeren Druck?
- Alfred Gislason:
-
Erwartungen und Ziele gibt es überall. In Kiel sind sie zwar
am höchsten, aber da habe ich eine Mannschaft, mit der ich
sie auch erreichen kann.
- Kieler Nachrichten:
-
Was wäre gewesen, wenn die Saison ohne Titel geendet hätte?
- Alfred Gislason:
-
Ich wäre trotzdem zufrieden gewesen, weil die Mannschaft
sich gut entwickelt hat und wir ein vernünftiges Fundament
gelegt haben.
- Kieler Nachrichten:
-
Was müsste geschehen, dass Sie darüber nachdenken, den
THW verlassen zu wollen?
- Alfred Gislason:
-
Egal was passiert, ich werde bleiben. Auch wenn
Kiel nicht mehr die Top-Stars holen kann. Den SC Magdeburg
haben damals aus finanziellen Gründen auch die
Stars verlassen müssen. Ich wurde mit jungen Leuten
Vierter, das war meine beste Trainerleistung beim SCM.
Aber - damals habe ich auch die meiste Kritik von der
sportlichen Leitung bekommen. Wichtig ist, dass diese
Leute Geduld haben. Außerdem glaube ich nicht, dass die
Stars Kiel verlassen werden. Löwen-Manager
Thorsten Storm hat gerade gesagt, dass
die Stars nur nach Mannheim gehen, wenn sie dort deutlich
mehr Geld bekommen als beim THW - das sagt alles.
Kiel ist das Handballzentrum.
- Kieler Nachrichten:
-
Sie machen die Videoanalysen alle selbst. Würde es Sie nicht
entlasten, diese anfertigen zu lassen?
- Alfred Gislason:
-
Das ist für mich überhaupt kein Thema. Nur wenn ich mir
die Spiele selbst ansehe, kann ich auch die Details erkennen.
Es stimmt, ich verbringe die Hälfte meiner Arbeitszeit mit
Videos, vier bis sechs Stunden am Tag. Das wird auch vor
Spielen gegen vermeintlich leichtere Gegner nicht weniger.
Denn wenn meine Spieler merken, dass ich mir weniger
Mühe gebe, werden sie leichtsinnig. Außerdem bekomme
ich so immer neue Ideen, die ich übernehmen kann. Witzig
war, dass ich 1999 eine Taktik beim SC Magdeburg eingeführt
habe, die inzwischen die ganze Welt spielt. Die hatte
ich von Barcelona kopiert. Was ich erst später erfahren habe
- Barcelona spielte die damals nur zufällig. Später haben
sie ihre eigene Zufallstaktik von mir kopiert.
- Kieler Nachrichten:
-
Bei der Meisterfeier wurden Sie mit Sprechchören gefeiert. Was
haben Sie dabei gefühlt?
- Alfred Gislason:
-
Stolz. Am Ende der vergangenen Saison war der Empfang
schon unglaublich. Aber so etwas wie diesmal, mit Fans an
der Straße und am Flughafen, noch nie. Das war irgendwie
undeutsch. In solchen Momenten denke ich auch an die
Anfänge, schließlich hätte ich hier auch ein völliger Flop
werden können.
- Kieler Nachrichten:
-
Viele sprechen nach dem Triumph in Köln von einem "Titel
ohne Makel", nachdem der Champions-League-Sieg 2007
unter dem Verdacht steht, manipuliert worden zu sein. Was sagen
Sie dazu?
- Alfred Gislason:
-
Der aktuelle Champions-League-Sieg war sicher ein Befreiungsschlag
für den Verein, auch wenn ich immer noch der festen Überzeugung bin, dass
damals nichts Unredliches abgelaufen ist.
- Kieler Nachrichten:
-
Welche Schlüsselszenen gab es für Sie im Saisonverlauf?
- Alfred Gislason:
-
Wichtig war der Sieg in Barcelona und das
Heimspiel gegen Hamburg. Da haben wir
gemerkt, dass das, was wir einstudiert hatten, schon
funktionierte. Rückblickend war auch das
Pokal-Aus in Gummersbach prägend.
Anschließend ist das Team noch enger zusammengerückt. Dabei
hat Marcus Ahlm als Kapitän eine sehr
wichtige Rolle gespielt.
- Kieler Nachrichten:
-
In welchen Bereichen hat die Mannschaft zugelegt und wo
sehen Sie noch Nachholbedarf?
- Alfred Gislason:
-
Bei der schnellen Mitte und der zweiten Welle haben wir
uns verbessert, aber entscheidend war, dass wir inzwischen
die 3:2:1-Deckung beherrschen. Da müssen aber noch
mehr Spieler in der Lage sein, diese zu spielen. Gerade auf
der Mitte habe ich nur Filip Jicha.
Gespannt bin ich darauf, wie wir Milutin Dragicevic
in der Abwehr einbauen.
- Kieler Nachrichten:
-
Welche Spieler haben den größten Sprung gemacht?
- Alfred Gislason:
-
Sicherlich Filip Jicha, für mich war
er der Spieler der Saison. Positiv auch, dass die Neuen sich alle
gut eingefunden haben. In der Rückrunde hat sich
Dominik Klein gesteigert.
Dass er nicht für die EM nominiert worden ist, hat
ihm einen Schub gegeben. Zuletzt hat auch
Christian Zeitz an alte Zeiten erinnert.
- Kieler Nachrichten:
-
Christian Zeitz hat davon profitiert,
dass er nach dem Ausfall von Kim Andersson
durchspielen durfte. Hätte er vorher schon mehr Anteile bekommen müssen?
- Alfred Gislason:
-
Er ist zuletzt disziplinierter geworden und hat mehr Sicherheit
bekommen. Auch in der 3:2:1-Deckung macht er inzwischen eine gute Figur.
Ich hätte ihm früher gerne mehr Spielanteile gegeben, aber er hat sie
nicht genutzt. Ich hatte keine Wahl. Über ihn habe ich viel nachgedacht und
in der nächsten Saison werde ich noch mehr rotieren lassen.
Gut möglich, dass er auch eine andere Rolle bekommen wird.
- Kieler Nachrichten:
-
Aron Palmarsson gilt als Jahrhunderttalent.
Wie beurteilen Sie seine Entwicklung?
- Alfred Gislason:
-
Aron hat anfangs einen riesigen
Sprung gemacht. Es ist ein großer Unterschied zwischen
der isländischen und der deutschen Liga. Auch
wenn er am Anfang extrem faul war und nur stockend
Deutsch gelernt hat, hat er seine Sache gut gemacht. In
Island war er immer der Beste, musste nicht viel dafür tun,
das ist hier anders. Talent allein reicht in Deutschland
nicht, das hat er kapiert. Er muss noch professioneller
werden. Das ist auch eine Charakterfrage, und ich glaube,
er schafft das.
- Kieler Nachrichten:
-
Sie haben drei Wünsche frei.
- Alfred Gislason:
-
... die Belastung der Nationalspieler sollte geringer werden,
Stichwort Qualifikationstermine. Zweitens wäre es schön,
wenn der THW immer beim Final4 in Köln dabei ist. Und
wenn unser großer Vulkan in Island ausbricht - der ist
längst überfällig - würde ich mir wünschen, dass es nicht
wieder so ein blödsinniges Flugverbot gibt. Die Asche ist
nämlich nicht so gefährlich.
(Das Gespräch führten Wolf Paarmann und Reimer Plöhn, aus den Kieler Nachrichten vom 11.06.2010)