04.09.2011 | Mannschaft |
Die Insel "La Reunion", Heimat von Daniel Narcisse, liegt 800 Kilometer östlich von Magdagaskar im indischen Ozean. Die Flugzeit von Paris beträgt ca. 11 Stunden. |
Der 31-Jährige wuchs in einem der schmucklosen Blocks auf, die die asphaltierten Handballfelder in Moufia einrahmen. Die Eltern, Marysa und Alex, arbeiteten hier als Hausverwalter und bewohnten mit ihren drei Söhnen und zwei Töchtern vier Zimmer. Daniel teilte sich eines mit seinen Brüdern Eric und Remy. "Für mich bestand ein Apfel immer aus fünf Teilen", sagt der Olympiasieger, der sich an eine glückliche Kindheit und eine strenge Mutter erinnert. "Ein Wort von ihr genügte." Die heute 58-Jährige legte Wert darauf, dass Daniel nicht nur auf den Sportplätzen von Moufia aufwuchs.
In den vergangenen Jahren hat sich hier wenig verändert. Auch heute lungern die Jugendlichen rund um die Spielfelder herum, trinken Bier, verkaufen Drogen. . Auf La Reunion, einem französischen Übersee-Departement sind 35 Prozent der rund 800.000 Einwohner jünger als 25 Jahre. Die Arbeitslosigkeit beträgt fast 40 Prozent. Besonders in St. Denis ist der Sport eine der wenigen Optionen, sich von den schlechten Straßen fernzuhalten. Um die Jugendlichen zu unterstützen, will Narcisse dem Bürgermeister Gilbert Annette seine Hilfe anbieten. "Sie sollen lernen, wo sich die guten Straßen befinden."
Seine Schule, das "College les Alizes", trennte nur wenige hundert Meter von seinem Elternhaus, dazwischen lagen mehrere Sportplätze. Mit seinem älteren Bruder Eric, der heute ein Sportgeschäft betreibt, spielte er nach der Schule Basketball. Anschließend übte er sich als Handballer. Wie einst sein Vater Axel, der wie er im linken Rückraum spielte. In der 1. Liga von La Reunion, einer Hobby-Liga. "Der Asphalt war für mich kein Problem", sagt Daniel Narcisse, der als 15-Jähriger erstmals in einer Halle Tore warf. "Meine Knochen habe ich mir erst in der Bundesliga ruiniert."
Narcisse war ein guter Läufer, er sprang schon in jungen Jahren sehr weit und hatte auch als Diskuswerfer durchaus Talent. Letztlich entschied er sich, ein Handballer zu werden, weil die Auswahl seiner Insel die schönsten Reisen machte.
Hausbesuch beim Postboten |
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Auf dem Asphalt von Moufia, einem Stadtteil von St. Denis, begann die Karriere von
Daniel Narcisse, der in dem Wohnblock gemeinsam mit seinen vier Geschwistern aufwuchs. "Damals hatte das Haus allerdings noch keine Farbe."
Yvrain Pause arbeitete im Talkessel von Mafate vier Jahrzehnte als Postbote, lief dabei 316.800 Kilometer über Stock und Stein,
also achtmal um die Welt. Doch Daniel Narcisse, sein
großes Idol, traf der 84-Jährige im Juli 2011 zum ersten Mal.
Narcisse besuchte ihn in seinem kleinen Tante-Emma-Laden, den er seit 51 Jahren im Dörfchen Cayenrie betreibt.
Siehe Extra-Bericht. |
Als 16-Jähriger verließ er La Reunion und zog ins Internat des französischen Erstligisten Chambery ein. Gemeinsam mit den Gebrüdern Gille, die heute für den HSV Hamburg spielen. "Nach einer Woche wollte ich wieder nach Hause fahren", sagt Narcisse. Alles sei ungewohnt gewesen. Das intensive Training, das Essen, die Mentalität, das Wetter, eben alles. Kartoffeln statt Reis, Schnee statt Sonne, die auf der Westseite von La Reunion 300 Tage im Jahr scheint. Es war sein Mentor Vincent Nangil, der ihn davon überzeugte, auf dem Festland zu bleiben. Es zu versuchen.
"Er war sehr zappelig, hatte unglaublich viel Energie ", erinnert sich Mutter Marysa, die es ablehnte, ihn auf Wunsch seines Sportlehrers bereits als Zwölfjährigen in ein Internat zu schicken. "Mir war es wichtig, dass er die Schule besucht. Da gab es für ihn keine Ausnahme, alle meine Kinder haben die gleiche Erziehung bekommen."
Unvergessen ist der erste Kontakt mit Nationaltrainer Daniel Constantini. Er rief ihn in den Weihnachtstagen 1999 auf La Reunion an, Daniel Narcisse machte gerade Urlaub bei seiner Familie. "Ich war so überrascht, dass ich gar nicht richtig antworten konnte." Er, der ein Jahr später Weltmeister werden sollte, hatte Angst. Zurecht, wie sich in seinem ersten Länderspiel herausstellen sollte. Heute kann er allerdings darüber lachen, wenn er sich an den ersten Auftritt im Trikot seiner Nationalmannschaft erinnert. Im Januar 2000 in einem Freundschaftsspiel gegen Island. In Vittel. Mit Stars wie Patrick Cazal oder Jackson Richardson, die wie er ihre Wurzeln auf La Reunion haben. "Vorne ein Fehlwurf, ein Ballverlust und hinten eine Zeitstrafe nach einem dummen Foul - das Spiel war nach zwei Minuten für mich beendet." Eine Katastrophe sei dieser Auftritt gewesen. "Ich dachte, ich kann gar nichts." Narcisse fand Trost bei den Kollegen und Trainer Constantini lud ihn gleich zum nächsten Spiel wieder ein. "Da wusste ich, dass ich zu dieser Mannschaft gehöre. Danach war alles ok."
Ok? Narcisse ist ein bescheidener Typ. Einer, der auf dem Boden geblieben ist, obwohl er in Frankreich längst ein Superstar ist. Deshalb ist er für seine Landsleute auf La Reunion die Antwort auf den Deutschen Franz Beckenbauer, der trotz Kaiser-Status ebenfalls bodenständig geblieben ist. Hier haben sie nie vergessen, dass er bei der Meisterfeier 2010 vor knapp 20.000 Menschen auf dem Kieler Rathausplatz ein Lied in ihrer kreolischen Sprache gesungen hat. Über "You Tube" landete der Song auf La Reunion, spätestens seitdem ist er Kult auf der Insel, zu deren bekanntesten Persönlichkeiten er gehört. Wie der Flug-Pionier Roland Garros, der Politiker Raymond Barre oder der Fußball-Nationalspieler Guillaume Hoarau. Seine Fans begegnen ihm mit großem Respekt, aber sie bedrängen ihn nicht. Mit seiner angeborenen Lässigkeit schafft er Distanz und Nähe. Jeder traut sich, ihn anzusprechen, akzeptiert es aber geduldig, wenn er erst einmal ein Sandwich mit scharfer Soße essen will, bevor er sich zum Foto vor einer Imbissbude aufstellt.
Narcisse würde sich wünschen, nach seiner Karriere mehr Zeit auf der Insel verbringen zu können. Allerdings fehlt noch die berufliche Perspektive. "Wahrscheinlich sind die Chancen größer, auf dem Festland einen Job zu bekommen." Derzeit studiert er an einer Fern-Universität in Grenoble. Er will verstehen, wie ein großes Unternehmen funktioniert.
Seine Frau Emmanuelle betreibt in Chambery ein Sportgeschäft und überlegt, eine Event-Agentur zu gründen. Ihr Mann hatte grünes Licht gegeben. Allerdings unter einer Voraussetzung: Sie sollte innerhalb von zwei Jahren den THW Kiel nach La Reunion lotsen. Gemeinsam mit dem Tourismus verband, der sich von dem Besuch der Handball-Stars positive Schlagzeilen über das Insel-Paradies erhoffte, gelang es ihr. Allerdings war sie sich anschließend nicht mehr sicher, ob sie diese Agentur tatsächlich noch gründen möchte. "Es war super, dass die Kieler hier waren. Aber die Organisation war auch ganz schön stressig."
Für den THW wäre ein Daniel Narcisse als gesunder Bestandteil des Teams nicht nur in sportlicher Hinsicht wichtig. Auch die Mannschaftskasse lebt von seinem lässigen Umgang mit Terminen und den daraus resultierenden Strafgeldern. "Sollten wir am Saisonende nach Mallorca fliegen, wünsche ich mir ein T-Shirt, auf dem steht: Erster Sponsor Daniel Narcisse."
Informationen über La Reunion finden Sie auf www.insel-la-reunion.info. |
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