Aus den Kieler Nachrichten vom 03.03.2006:
Kiel - Der THW Kiel hat im
Viertelfinale der Champions League
mit
28:32 gegen Flensburg verloren. Dennoch
sieht Andreas Wilhelm gute Chancen, dass nach dem
morgigen Rückspiel (15.10 Uhr) die Zebras jubeln.
Der 48-Jährige arbeitet als Sportpsychologe und
Trainingswissenschaftler am Institut für Sport
und Sportwissenschaften der Kieler Uni. Der gebürtige
Flensburger ist ehemaliger Landesauswahltrainer der
männlichen A-Jugend und spielte Handball beim TSV
Altenholz und TSB Flensburg.
- Kieler Nachrichten:
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Sportlich bewegen sich der THW und Flensburg auf Augenhöhe. Welche
Unterschiede sehen sie in der Psyche?
- Andreas Wilhelm:
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Kiel hat die deutlich jüngeren Spieler und mit fünf
neuen auch eine Mannschaft, die in ihrem Reifeprozess
sehr jung ist. Sie gerät deshalb leichter in Unruhe.
So könnte der Transfer von Jeppesen
bei ihr Spuren hinterlassen haben.
- Kieler Nachrichten:
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Aber Lars Krogh Jeppesen kommt doch erst im Sommer.
- Andreas Wilhelm:
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Das beschäftigt die Spieler aber schon heute.
Schließlich hat das für die meisten Auswirkungen
auf ihre künftige Rolle. Da Jeppesen
sich für Kiel und gegen Flensburg entschieden hat,
könnte das bei der SG zu einer Trotzreaktion geführt
haben. Motto: "Wir zeigen Euch, dass wir auch ohne ihn
gewinnen können."
- Kieler Nachrichten:
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Viele Spieler waren bei der EM in der Schweiz aktiv.
Wie sehr belastet ein solches Turnier?
- Andreas Wilhelm:
-
Auf jeden Fall unterschiedlich. Junge Spieler sind
anfälliger. Stark belastet sind auch die erfolgreichen
und die, die schlecht abgeschnitten haben. Das bedeutet,
dass es die beiden jungen Kieler Vid Kavticnik
und Nikola Karabatic am
härtesten getroffen hat. Kavticnik,
weil seine Slowenen enttäuscht haben. Karabatic,
weil er Europameister geworden ist. Erst 21 Jahre alt, so
ein großer Erfolg und dann dieser Medienrummel - der hat es
nicht leicht. Die Dänen der SG dürften sich schnell
wieder an den Alltag gewöhnt haben. Sie haben kein
überragendes, aber ein gutes Turnier gespielt.
Außerdem sind sie alle routiniert genug, um den Schalter
umzulegen.
- Kieler Nachrichten:
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Wie sollten sich die Kieler für das Rückspiel motivieren?
- Andreas Wilhelm:
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THW-Kapitän Stefan Lövgren hat vor
dem Hinspiel gesagt, dass sie die
Flensburger schlagen können, sich aber keine Schwächephase
leisten dürfen. Das ist keine gute Zielformulierung.
Wir wollen es schaffen und dafür werden wir das ganze Spiel
kämpfen - das hätte ein amerikanischer Sportler gesagt.
Stärker fand ich das Zitat von Trainer
Noka Serdarusic, der sagte, dass
die Einstellung in der Champions League 120 Minuten lang
stimmen muss. Das bedeutet, es ist erst Halbzeit und auch
jetzt noch alles möglich.
- Kieler Nachrichten:
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Wie wichtig wird ein guter Start für die Kieler sein?
- Andreas Wilhelm:
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Ich glaube, dass die ersten 30 Minuten nur dazu dienen
werden, sich warm zu spielen. Entscheidend wird sein,
wie es zur Halbzeit steht. Was noch möglich ist,
bevor es in das letzte, in das dann entscheidende
Viertel geht, hängt vom Coaching in der Pause und
von der beschworenen Einstellung ab.
- Kieler Nachrichten:
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Die Kieler haben Schlimmes erlebt, nach knapp drei Jahren
auch wieder zu Hause verloren. Wie sollen sie damit
umgehen?
- Andreas Wilhelm:
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Ich glaube nicht, dass sich Spieler mit Serien beschäftigen.
Das ist für die Medien wichtiger. Die Kunst ist, seine
tägliche Routine zu bewahren und keine weiteren Störungen
an sich heran zu lassen. Auf keinen Fall sollten sie jetzt
beispielsweise außer der Reihe Hanteln stemmen, um sich
abzureagieren. Ein gewisser Stress muss sein. Der setzt
unglaubliche Energien frei.
- Kieler Nachrichten:
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Kiel oder Flensburg - wer steht mehr unter Druck?
- Andreas Wilhelm:
-
Flensburg. Aus zwei Gründen. Die Erwartungshaltung der
Fans wird wegen des Hinspiels
und dem besonderen Gegner enorm sein. Schließlich
denken die Fans, dass die SG sich mit diesem Vorsprung
den Sieg wohl nicht mehr nehmen lassen wird. Aber
vier Tore sind schnell aufgeholt. Es gibt auch keinen
Beweis dafür, dass zwischen der Unterstützung der
Fans und dem Erfolg ihres Teams ein Zusammenhang
besteht. Es gibt aber Studien, die andeuten, dass
der Heimvorteil tatsächlich keiner ist und Fans
sogar einen negativen Einfluss haben könnten.
- Kieler Nachrichten:
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Und Grund Nummer zwei?
- Andreas Wilhelm:
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Für dieses SG-Team könnte es eine der letzten Chancen sein,
die Champions League zu gewinnen. Die junge Kieler Mannschaft
wird erst in zwei Jahren unter diesem Druck stehen. Außerdem
ist Flensburg im DHB-Pokal ausgeschieden und in der
Meisterschaft hinter Kiel - ihre Titelchancen sind also
in der Champions League am größten und damit auch die Angst,
hier zu versagen. Ich glaube, dass Flensburg verliert.
Entscheidend wird aber sein, ob mit drei, vier oder fünf Toren.
(Das Gespräch führte Wolf Paarmann, aus den Kieler Nachrichten vom 03.03.2006)